Wie weiß ich, daß ich meinem Feind vergeben habe? Diese Frage drängte sich dem Verfasser dieser Betrachtung mit der Forderung auf, daß er sie mit einer brauchbaren Antwort befriedige. Das Vergeben ist für das metaphysische Heilen eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit, und es wird in den Werken und Lehren Christi Jesu besonders hervorgehoben. Nachdem der Meister die Jünger das Gebet gelehrt hatte, das Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 16) das Gebet nennt, „das sich auf jedes menschliche Bedürfnis erstreckt”, das Gebet des Herrn, sagte er: „So ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, so wird euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wo ihr aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird euch euer Vater eure Fehler auch nicht vergeben”.
Der große Lehrer erging sich nicht in nichtssagenden Redensarten, als er seinen Jüngern die göttlich-wissenschaftliche Wahrheit lehrte. Er bemühte sich, ihnen zur geistigen Erleuchtung zu verhelfen und ihnen die Regeln zu geben, die der Anwendung von allem, was er lehrte und betätigte, zu Grunde lagen. Das Vergeben sich zur Regel zu machen, wozu er sie so ernstlich ermahnte, war der Schlüssel zu seinem Erfolg. Durch das Wirken dieser Auffassung in seinem Verständnis heilte er die Kranken, trieb er die Teufel aus und erweckte die Toten.
Als Petrus, der ungestüme Jünger, das Schwert gegen den Knecht des Hohepriesters erhob und ihn verwundete, wies ihn Jesus zurecht. Obwohl unser Meister wußte, daß der Kriegsknecht feindliche Absichten gegen ihn hegte, gab er seinem Jünger einen Verweis, berührte er den Verwundeten und heilte ihn. Jesus hätte von dem Standpunkt aus, von dem aus die Sterblichen richten, das Recht gehabt, den als seinen Feind zu betrachten, der sich der nach seiner Vernichtung schreienden Menge anschloß. Der allgemeinen Auffassung des sogenannten menschlichen Gemüts gemäß konnte dem Petrus daraus kein Vorwurf gemacht werden, daß er seinen Meister verteidigte. Der natürliche Drang des menschlichen Wesens lobt eine Handlung wie diejenige des Petrus und preist den Täter als Helden und treuen Freund. Unser Meister aber ließ alle diese menschlichen Gründe, die zu Gunsten des Petrus hätten sprechen können, außer acht, wies seinen Jünger zurecht und heilte den, der gekommen war, ihn gefangen zu nehmen. Eine gutmütige Veranlagung drückt sich wohl in einem persönlichen Sinn für Vergeben aus und hält sich und ihren Gesinnungskreis, ihre Umgebung, von den Qualen des sterblichen Grolls und Hasses frei; doch kein persönlicher Sinn von Vergebung kommt dem Verständnis gleich, das des Hohepriesters Knecht körperlich wiederherstellte, als dieser in jener bedeutsamen Nacht die Berührung durch des Meisters Denken es fühlte.
In „Wissenschaft und Gesundheit” (S. 5) lesen wir: „Die Sünde ist nur vergeben, wenn sie durch Christus — Wahrheit und Leben — zerstört worden ist”. Diese Worte unserer verehrten Führerin offenbaren das Geheimnis des Verständnisses, das unser Meister von Vergebung hatte und es dadurch zum Ausdruck brachte, daß er einen Feind heilte, der mithalf, ihn ums Leben zu bringen. Jesus erkannte die Ansprüche des materiellen Sinnes, die eine Gott entgegengesetzte Macht gelten lassen wollten, als falsch. Sein klares Verständnis, daß der Mensch der unendlichen Liebe entstammt und des Hasses und der Leidenschaft unfähig ist, veranlaßte ihn, diesen Ansprüchen Wirklichkeit abzusprechen; daher wurde der von Petrus Verwundete geheilt.
In der Bergpredigt lesen wir: „Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde; segnet, die euch fluchen; tut wohl denen, die euch hassen; bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen”. Diese grundlegenden geistigen Regeln leiteten die Betätigung von Jesu Verständnis von Vergebung. Gehorsam gegen sie befähigte ihn, die Aussätzigen zu reinigen, dem Blindgeborenen geistiges und leibliches Licht zu geben und den in den Gräbern wohnenden Besessenen von seiner Krankheit zu befreien. Diese Werke waren der erkennbare Beweis von der Richtigkeit seines Verständnisses des ewigen Wortes und seiner Betätigung des Vergebens, als er täglich in dem war, das seines Vaters ist, und das Reich des unendlichen Guten im Denken seiner Zeitgenossen und künftiger Geschlechter aufrichtete.
In ihrem unsterblichen Aufsatz „Liebet eure Feinde” schreibt unsere verehrte Führerin in Miscellaneous Writings (S. 11): „Wir müssen unsere Feinde in allen Kundgebungen lieben, worin und wodurch wir unsere Freunde lieben”. Was unsere Führerin mit diesen Worten so stark betont, ist für die Ausübung der Christlichen Wissenschaft eine Regel. Der Christliche Wissenschafter weiß, daß es nicht zwei Regeln gibt — eine für den Freund und eine andere für den Feind — deren Befolgung ihn befähigt, die Irrtümer des materiellen Sinnes zu zerstören und die leidenden Sterblichen von ihren Krankheiten zu heilen. Durch Gehorsam in jedem Falle gegen die eine Regel heilte der Meister den Feind, der ihm nach dem Leben trachtete, und erweckte er seinen Freund aus dem Grabe. Das christlich-wissenschaftliche Verständnis, das die Wirklichkeit der Ansprüche von Gewalt und Haß ablehnte, verstand auch die Nichtsheit des Todes und gab den geliebten Lazarus seinen Angehörigen und seinen Freunden wieder. In beiden Fällen wurden die Ansprüche des persönlichen Sinnes abgelehnt, als falsch bewiesen, und die Allheit von Leben, Wahrheit und Liebe wurde wissenschaftlich verstanden und demonstriert.
Wenn wir das Irrige der Ansprüche des materiellen Sinnes beweisen, müssen wir uns nicht nur fragen: Wie weiß ich, daß ich meinem Feinde vergeben habe? sondern auch: Wie weiß ich, daß ich meinen Freund liebe? Unser Meister lieferte in jedem Falle denselben Beweis: er bekundete sein Verständnis, daß der wirkliche Mensch — im Gegensatz zu dem Zeugnis des materiellen Sinnes — geistig, das Bild und Gleichnis des unendlichen Guten, ist. Seine Demonstration dieser Wahrheit war für ihn und für seine Jünger der Beweis, daß all sein Tun: den Feinden vergeben, die Kranken heilen, die Freunde lieben und die Toten erwecken, vor Gott ein und derselbe geistige Dienst ist, und daß alle, die mit vollem Verständnis für das, was er lehrte, ihm nachfolgten, solche Werke vollbringen können.
Ein eingehendes Sichvertiefen in die Angelegenheit des Vergebens mit Hilfe der Konkordanzen zur Bibel, zu „Wissenschaft und Gesundheit” und zu Mrs. Eddys übrigen Werken wirft ein wunderbares Licht auf diese äußerst wichtige Frage; denn die Bibel sagt klar, daß unsere Fehler unvergeben und unzerstört bleiben, wenn wir anderen ihre Fehler nicht vergeben. Sogar im Alten Testament finden wir, daß die am meisten geistigen Gestalten den Christussinn des Vergebens in wunderbarer Weise zum Ausdruck brachten. Unter diesen ragen besonders hervor Joseph und David, der mehr als einmal vergab. Wenn man in einem Fall ein großes Unrecht verzeiht und es bei anderen Gelegenheiten auffällig ganz unterläßt, so weist dies darauf hin, daß wir wachsamer sein und ernstlicher beten müssen; dann erlangen wir ganz gewiss ein höheres Verständnis, das uns befähigt, schwierigere Aufgaben auszuarbeiten. Hieraus folgt, daß in dem Maße, wie falsche Annahmen im menschlichen Denken durch die Macht der Wahrheit zerstört werden, das menschliche Bewußtsein von seinen Feinden befreit, frei gemacht wird, um die Macht, Reinheit, Gesundheit und den Reichtum des Reiches Gottes, des Guten, zum Ausdruck zu bringen, — beständig teil zu haben an den Früchten des Geistes und zu leben „von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht”.
Wenn Vergebung bei ihrem heiligsten Dienst das menschliche Denken berührt, so veredelt und reinigt sie es, rührt das menschliche Bewußtsein bis auf den Grund auf und legt es, wie es bei Maria Magdalena geschah, zu Füßen des Christus, um es zu erneuern und zu reinigen. Durch ein menschliches Ausüben des liebevollen Dienstes im Heilen der Sterblichen von Sünde und Krankheit bringt sie das Denken in demütiger Ergebenheit gegen Christus, Wahrheit, zum Fuße des Kreuzes, und von da zum Auferstehungsmorgen, wo Engel auf den auferstandenen Christus weisen, — zu der letzten Erfahrung, in der durch den geistigen Sinn ein wunderbares Verständnis von dem, was die Himmelfahrt bedeutet, das menschliche Denken erreicht und es mit dem Lichte des Himmelreichs erleuchtet.
Unsre Trübsal, die zeitlich und leicht ist, schafft eine ewige und über alle Maßen wichtige Herrlichkeit uns, die wir nicht sehen auf das Sichtbare, sondern auf das Unsichtbare. Denn was sichtbar ist, das ist zeitlich; was aber unsichtbar ist, das ist ewig. — 2. Kor. 4:17, 18.
