Die Morgensonne strahlte ins Zimmer. Eine Frau war gekommen, um zu erfahren, ob sie durch die Christliche Wissenschaft von den Fesseln eines lahmen Knies befreit werden könne, das so steif geworden war, daß sie es nicht mehr biegen konnte. Der Praktiker sprach eine Weile mit ihr über die Heilkraft der Wahrheit und Liebe und veranschaulichte seine Worte durch Heilungserfahrungen aus seinem eigenen Leben und dem seiner Familie. Die Besucherin hörte geduldig zu; als aber der Erzähler eine Pause machte, lächelte sie und sagte in traurigem Tone: „Ja, aber so steht es mit mir nun schon seit fünfzehn Jahren”. Der Praktiker schwieg einen Augenblick und wandte sich der einzigen Weisheitsquelle zu. Während er dann den hellen Glanz des Sonnenscheins, der ins Zimmer strömte, betrachtete, sagte er: „Gut, angenommen es sei so. Und angenommen, Sie hätten zu Hause ein Zimmer, das fünfzehn Jahre lang im Dunkel, mit geschlossenen Läden, verriegelten Fenstern und zugezogenen Vorhängen dastand, und an einem dieser herrlichen Frühlingsmorgen gehen Sie hinein, ziehen die Vorhänge zurück, öffnen die Fenster und schlagen die Läden zurück. Wie lange würde das Sonnenlicht brauchen, um ins Zimmer zu gelangen? Wie lange würde die Dunkelheit brauchen, um es zu verlassen?” Langsam breitete sich über das Gesicht der Frau ein verständnisvolles Lächeln; offenbar hatte sie des Praktikers Versicherung, daß in dieser Weise die Wahrheit im menschlichen Bewußtsein wirke, rückhaltlos angenommen. Bald darauf schrieb sie, sie habe ihre Freiheit erlangt; sie könne nicht nur gehen sondern auch laufen, wenn sie wolle. Was für eine unschätzbare Eigenschaft die Empfänglichkeit doch ist!
Die Botschaft, die Johannes an die Gemeinde zu Laodizea richtete, enthält die Erklärung des Christus, der Wahrheit: „Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an”; und die Verheißung, die diese Erklärung begleitete, war, daß der himmlische Gast eintreten würde, wenn man ihm die Tür öffnete. Die Wahrheit steht immer noch vor der Tür und klopft an; aber sie drückt nicht auf die Klinke. Diesen Teil der Arbeit müssen die Menschen beim Ausarbeiten ihrer Erlösung verrichten.
In allen ihren Schriften hat die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, Mary Baker Eddy, das Wesen dieser an die Tür des menschlichen Bewußtseins klopfenden Wahrheit enthüllt und erklärt. Die Christliche Wissenschaft enthüllt die Wahrheit über alles Gute und auch über die Ansprüche des Bösen. Sie ist die Wahrheit über Gott, die Wahrheit über den Menschen, die Wahrheit über die Wahrheit, die Wahrheit über den Geist, die Wahrheit über das Unwahre, die Wahrheit über die Materie, die Wahrheit über die Sünde, die Krankheit und den Tod und die Wahrheit über die Sündlosigkeit, die Gesundheit und das Leben. Sie offenbart die große Wahrheit, daß alles Gute immer gegenwärtig, stets erreichbar, ist; daß es stets alles war und stets alles sein wird.
Damit jedoch die Menschen durch diese Wahrheit bewußt gesegnet werden, müssen sie das Vorhandensein dieser Wahrheit gewahr werden und etwas von ihrem göttlichen Wesen und Kundwerden verstehen. Die in der Erklärung des Johannes: „Meine Lieben, wir sind nun Gottes Kinder” enthaltene Wahrheit, hat wenig Wert, wenn man nicht verstehen lernt, was die Worte „Gottes Kinder” bedeuten, und nicht anfängt, die Tatsache dieser Kindschaft in der gegenwärtigen Erfahrung darzutun. Es wird nicht von uns verlangt, daß wir Unmögliches vollbringen; wir werden gebeten, daß wir uns zunutze machen, was über den Menschen wahr ist, was Gott über den Menschen weiß; und wir müssen anfangen und fortfahren, diese Wahrheit im täglichen Leben zum Ausdruck zu bringen.
Auf Seite 2 ihres Werks Unity of Good weist Mrs. Eddy auf das „unendliche Durchdringen der Wahrheit” hin. Man bedenke bloß, was in diesen tiefen Worten enthalten ist. Man bedenke, wie lang und wie geduldig diese durchdringende Wahrheit des Seins versucht hat, ins menschliche Bewußtsein zu gelangen; wie sie dauernden Einlaß fand bei jenem geistig gesinnten und geistig einsamen Einwohner zu Ur in Chaldäa, Abraham; wie sie ihn—buchstäblich und metaphysisch —veranlaßte, seines irdischen Vaters Haus zu verlassen und als Fremder unter Fremden im fremden Lande zu wohnen; wie sie nicht nur seinen Namen, sondern auch ihn selbst umwandelte, bis er schließlich würdig war, „ein Freund Gottes” zu heißen. Man bedenke ferner, was im menschlichen Bewußtsein geschieht und was in zunehmendem Maße darin geschehen wird, wenn es dem „unendlichen Durchdringen der Wahrheit” folgerichtig untergeordnet wird.
Es gibt noch eine ältere Geschichte von einem, der sich diesem göttlichen Verfahren so gründlich unterordnete, daß die Bibel von ihm erzählt: „Dieweil er ein göttliches Leben führte, nahm ihn Gott hinweg, und er ward nicht mehr gesehen”. Heute würden wir sagen: Enoch hatte des Menschen Einheit mit dem Geist so gründlich verstehen gelernt und dargetan, daß er aufhörte, dem, was dem Geist ungleich ist, wahrnehmbar zu sein. Seine Empfänglichkeit für die Wahrheit befähigte ihn zu beweisen, daß der Mensch nicht mehr als menschlich, sondern als göttlich erkannt wird, wenn die letzte Spur der materiellen Annahme aus dem Bewußtsein verschwindet; der „alte Mensch”—die alte Auffassung vom Menschen—wird „ausgezogen”, abgelegt und durch den neuen ersetzt. Johannes vollbrachte dies; während er noch auf Erden weilte, gelangte er dahin, daß er die Dinge so sehen konnte, wie sie sind,—wie das göttliche Gemüt sie sieht.
Die Christliche Wissenschaft lehrt die Menschen, daß die Wirklichkeit alles ist, was wirklich besteht. Wir müssen uns selbst und einander noch so kennen lernen, wie wir wirklich sind,—wie das göttliche Gemüt den Menschen kennt. Und so gewiß, wie wir geduldig und rückhaltlos die Empfänglichkeit für die Wahrheit pflegen, werden wir entdecken, daß wir in der Erkenntnis und in dem Bewußtsein des wirklichen Seins des Menschen—der Widerspiegelung unseres Vater-Mutter Gottes—wachsen.
