Nach alter Anschauung ist die Eigenschaft, durch die sich die Menschen hauptsächlich von den niederen Tieren unterscheiden, die Fähigkeit vernünftig zu denken. Es wird geltend gemacht, diese Kraft beruhe auf einer Anlage, auf einer mentalen Begabung, die den niederen Lebewesen nicht zukomme; und dieses Denkvermögen oder der Verstand habe seinen Sitz in einem höher entwickelten Organ, das man das Gehirn nenne.
In ähnlicher Weise haben sich die Sterblichen daran gewöhnt, zwischen den mentalen Errungenschaften der Menschen zu unterscheiden. Man glaubt, manche seien mit viel größerer Verstandeskraft begabt als andere, was sie einer höheren mentalen Ausrüstung, d. h. nicht nur einem größeren und wirksameren Gehirn sondern auch besseren Umständen der Geburt, der Erziehung und der Umgebung verdanken. Infolge dieser allgemein angenommenen Einteilung in Klassen entstand die Ansicht, einige hätten höhere Denkfähigkeiten, einen höheren Grad von Intelligenz. Während die großen Menschenwerke, die die Kultur förderten, zweifellos das Ergebnis sich entfaltender Intelligenz sind, kommen die Tatsachen dieser Entfaltung durch die von Mrs. Eddy gemachte Entdeckung der Wahrheit über Gott, das Gemüt, und Seine unendlichen Ideen, die das Weltall und den Menschen ausmachen, nun ans Licht.
Nicht die ganze herrliche Weisheit, die Christus Jesus in jener Nacht mitteilte, in der Nikodemus zu ihm kam, um ihn zu befragen, ist von den Menschen allgemein geteilt worden. Die Worte des Meisters: „Was vom Fleisch geboren wird, das ist Fleisch; und was vom Geist geboren wird, das ist Geist” weisen auf tiefe Wahrheiten hin, auf denen die ganze Schöpfungsphilosophie, selbst die Unterscheidung zwischen dem Wirklichen und seiner Fälschung beruht. Da die Sterblichen Fälschungen des wirklichen Menschen sind, wie die Christliche Wissenschaft lehrt, so haben sie aus sich selbst keine von der Gottheit ausgehenden Eigenschaften; ihr Scheindasein ist das Ergebnis eines Glaubens an ein bewußtes von Gott getrenntes Sein; und solange die Sterblichen nicht durch das göttliche Gemüt aus dieser Unwahrheit herausgeführt sind, wird ihre sogenannte Intelligenz einem andern Gemüt als dem göttlichen zugeschrieben.
Die Menschen glauben allmählich fest an ihre eigenen Fähigkeiten und dünken sich wegen einer ihnen innewohnenden Eigenschaft ihren Mitmenschen überlegen. Sie vergessen das Vorbild des demütigen, zugleich sanftmütigen und mächtigen Nazareners und maßen sich selbst die Ehre für das an, was als höhere Weisheit und Fähigkeit erscheint. Die Christlichen Wissenschafter lernen über diesen Gegenstand manch wichtige Lehre,—sie lernen verstehen, daß es nur ein göttliches Gemüt gibt, das unendlich ist, daß es der einzige Schöpfer des geistigen Weltalls ist, einschließlich des Menschen, der die göttliche Intelligenz ausdrückt. Sie entdecken, daß ein Sterblicher aus sich selbst keine Wirklichkeit hat und nur in dem Maße wahrhaft intelligent ist, wie er die Eigenschaften Gottes anerkennt, und daß die Sterblichen nur insoweit wahrhaft intelligent werden, wie das göttliche Gemüt sie aus ihrem falschen Sinn von Verstandesmäßigkeit herausführt.
Mrs. Eddy spricht in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 505) von dem durch das Gemüt entfalteten geistigen Verständnis und sagt: „Dieses Verständnis ist nicht intellektuell, nicht das Ergebnis gelehrter Errungenschaften; es ist die ans Licht gebrachte Wirklichkeit aller Dinge”. Nicht durch die sogenannten menschlichen Fähigkeiten sondern aus dem göttlichen Gemüt allein kommt die wahre Intelligenz. Diese Intelligenz beschäftigt sich ausschließlich mit der geistigen Wahrheit und nimmt von der Scheinwelt der Materie keine Kenntnis. Da der Geist und die Materie nichts gemein haben, so umfassen das göttliche Gemüt und seine Kundwerdung nicht die Scheinfähigkeiten, die allein das ganze Gebiet der materiellen Erfahrung wahrnehmen.
Die Christlichen Wissenschafter, die die tiefen Dinge Gottes verstehen lernen, fangen an, ihre Gedanken so den göttlichen Ideen anzupassen, daß sich ihr Blick für die Wirklichkeit erweitert. Während man den Entschluß, dem Licht der Wahrheit zu folgen, augenblicklich fassen kann, wird die Umwandlung der Gesinnung zu einer geistigen Grundlage nicht schnell erreicht. Diese Umwandlung ist von großer Bedeutung. Durch den Erneuerungsvorgang ändert sie unsern Gesichtspunkt vollständig. Das in geistiger Wahrheit ganz unbelehrte Denken verläßt sich auf seine eigenen Quellen; denn es glaubt an die eigenen Fähigkeiten. Der Christliche Wissenschafter, der rückhaltlos auf Gott vertraut, versucht, sich ganz auf Ihn zu verlassen und löst nach bestem Können seine Aufgaben durch geistiges Verständnis.
Der Forscher in der christlichen Metaphysik, der die Unsicherheit und Unzulänglichkeit des Vertrauens auf etwas anderes als auf Gott erkennt, trachtet danach, die Harmonie des vollkommenen Menschen durch Dartun zu offenbaren. Jeder Christliche Wissenschafter, der das tiefe Verlangen hat, unserer geliebten Führerin so weit wie möglich in ihrer herrlichen geistigen Errungenschaft zu folgen, verläßt sich nicht auf Verstandesmäßigkeit, der selbst Beschränkung, Endlichkeit und Unsicherheit anhaftet, sondern auf den Geist, das göttliche Gemüt, das unendliche Möglichkeiten bietet,—Möglichkeiten der Entwicklung im Erlangen von Ideen, die nicht nur vollkommen sondern auch dauernd sind. In diesem Vorgang wandeln wir nicht im Schauen sondern im Glauben; und unsere Schritte werden in dem Maße recht geführt, wie wir im Gehorsam gegen die Lehren dessen leben, der alles Sterbliche litt und überwand, damit die Menschen die Intelligenz erlangen möchten, die göttlich ist.
