Wenn erkannt wird, daß Heiligkeit das Wahre, das Verständige, das Liebliche, das Herrliche in sich schließt; wenn eingesehen wird, daß Heiligkeit nur ein anderer Name für göttliche Ganzheit, für Gesundheit ist, für alles, was von Gott, dem Guten, kommt, dann werden die Menschen bereit sein, sie von ganzem Herzen, von ganzer Seele und von allen Kräften zu suchen. Die Welt im allgemeinen hat das Erlangen der Heiligkeit in eine künftige Zeit verwiesen, aber die Christliche Wissenschaft entfaltet vor unseren Augen das allgegenwärtige Wesen der Heiligkeit, und niemand braucht die Stunde des Beweisens seiner eigenen Einheit mit Heiligkeit aufzuschieben.
Die grundlegende Wahrheit, auf die die Christliche Wissenschaft besonderen Nachdruck legt, ist nun, daß Gott das All ist, daß „der Herr allein Gott ist und keiner mehr”. Da dies wahr ist, so folgt unvermeidlich daraus, daß Gottes Schöpfung die einzige Schöpfung ist, und daß sie geradeso vollkommen sein muß, wie Gott sie machte. Alles, was in der Wirklichkeit besteht, muß daher heilig, gesund und vollständig sein, muß jener Heiligkeit teilhaftig sein, die eine innewohnende Eigenschaft alles dessen ist, was Gott gehört. Die Christlichen Wissenschafter sind daher aufgefordert, die Tatsache zu beweisen, daß Heiligkeit unendlich und jedem der Kinder Gottes in gleichem Maße zu eigen ist.
In welchem Widerspruch hierzu doch das Zeugnis der körperlichen Sinne steht! Wie beharrlich sie doch vom Gegenteil der Heiligkeit, der Ganzheit, reden! Wie hartnäckig sie die Gegenwart des Unvollständigen, des Unvollkommenen, des Unheiligen behaupten! Dennoch muß die Heiligkeit überall gegenwärtig sein, da Gott, das Gute, allen Raum ausfüllt! Wie sollen wir dann die Allheit der Heiligkeit und die Nichtigkeit ihres Gegenteils beweisen? Wie sollen wir jene Heiligkeit erlangen, die hier und jetzt das rechtmäßige Erbe jedes Kindes Gottes ist? Sicherlich dadurch, daß wir die Lehren jener Wissenschaft annehmen und befolgen, die erklärt, wie wir dem Meister, der „die Schönheit der Heiligkeit” (engl. Bibel) in ihrer ganzen übersinnlichen Erhabenheit und Vollständigkeit bewies, folgen müssen.
Da Heiligkeit die allgegenwärtige Tatsache des göttlichen Seins ist und dennoch den körperlichen Sinnen immer abwesend scheint, so kann sie jeder von uns dem menschlichen Bewußtsein nur dann beweisen, wenn wir vor allen Dingen bereit sind, die Heiligkeit zu ergreifen und das Zeugnis der körperlichen Sinne abzulehnen. Wie dieses Annehmen und Verwerfen geschieht, ist eine die vollständige Anteilnahme jedes Christlichen Wissenschafters erheischende Frage, die die gleich wichtige Frage des Handhabens des Irrtums in sich schließt.
Es ist natürlich ganz unmöglich, gleichzeitig zwei Gegensätze im Denken zu beherbergen. Jesus vertrat dies sehr bestimmt, als er erklärte: „Niemand kann zwei Herren dienen: entweder er wird den einen hassen und den andern lieben, oder er wird dem einen anhangen und den andern verachten. Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon”. Die Christlichen Wissenschafter verstehen daher, daß sie nicht gleichzeitig Gegensätze beherbergen oder zum Ausdruck bringen können. Glauben sie an Unheiligkeit, so glauben sie nicht an Heiligkeit; bringen sie Gutes zum Ausdruck, so bekunden sie nichts Böses. Auch wissen sie, daß dieses Ergreifen des Wahren und das Aufgeben des Falschen immer unter der unmittelbaren Führung Gottes sein muß, um vollkommen zu geschehen. Es ist ganz unmöglich, daß sie die Ansprüche des Bösen als böse anerkennen und verwerfen und ihnen nicht gleichzeitig entgegentreten. Wir treten daher dem Bösen entgegen, wenn wir jeden seiner Ansprüche handhaben, zuerst indem wir es als böse erkennen, dann indem wir es mit seiner eigenen Nichtigkeit durch das Verständnis der Allheit Gottes — der Allheit des Guten — zurechtweisen, und schließlich indem wir — als Wichtigstes von allem — im Guten beharren, damit Gott als das einzig Wirkliche bewiesen werde.
Das Handhaben des Bösen im Denken jedes einzelnen sollte daher immer unter der unmittelbaren Führung Gottes sein. Jeder muß das Böse handhaben, sonst kann er nie davon frei werden; denn das Unterlassen, es zu leugnen und zu verwerfen, es mit der Wahrheit als etwas nicht Vorhandenes zu erkennen, heißt noch daran glauben. Einem solchen Bewußtsein müssen Unheiligkeit, Unvollständigkeit, Ungesundheit noch gegenwärtig, Heiligkeit und Gesundheit dagegen abwesend scheinen. Nichtsdestoweniger brauchen sich die Christlichen Wissenschafter nie verleiten zu lassen, zu glauben, daß sie nicht wissen, wie sie das Böse handhaben müssen, da ihre Lehrbücher voll von vollkommenen Verfahren dieses Handhabens sind. Auch brauchen sie nicht darüber, was nach ihrer Meinung ihrem Nächsten in dieser Richtung mangelt, beunruhigt zu sein. Statt dessen können sie sich mit der Erklärung der Mrs. Eddy in „Miscellaneous Writings” (S. 293) trösten: „Das Beste ist (im allgemeinen), das gerechte Entfalten des Irrtums in Ruhe zu lassen und es der besonderen Sorge der unfehlbaren Verfahren der göttlichen Weisheit zu überlassen. Dieses Aufdecken und Strafen der Sünde muß, wird einmal, zur Errettung der Menschen kommen”.
Indem wir also alles dem göttlichen Gemüt anvertrauen lernen, bleibt es jedem freigestellt, sein eigenes Trachten nach Erlangung der Heiligkeit in der Weise, die ihm Gott zeigt, fortzusetzen.
