Nach althergebrachtem Brauch gilt der Platz zur rechten Hand einer Obrigkeit als Sinnbild der Bevorzugung. Wollte ein Herrscher im Altertum jemand eine besondere Ehre erweisen, so wies er ihm den Platz auf der rechten Seite seines Thrones an. Auch bei gesellschaftlichen Angelegenheiten wird der Platz zur Rechten des Gastgebers gewöhnlich dem Ehrengast eingeräumt. In ähnlichem Sinne nimmt in den gesetzgebenden Körperschaften der ganzen Welt die vorherrschende Partei zum Zeichen ihres Vorrangs den Platz auf der rechten Seite des Vorsitzers ein.
Verfolgt man diesen Brauch durch die Jahrhunderte zurück, so findet man, daß er schon zu Beginn der biblischen Zeit geübt wurde. Der Psalmist hielt den Platz zur Rechten der göttlichen Macht sowohl für einen Ehrenplatz als auch für einen Platz des Schutzes. Der 110. Psalm beginnt: „Der Herr sprach zu meinem Herrn: ‚Setze dich zu meiner Rechten, bis ich deine Feinde zum Schemel deiner Füße lege‘”. Der Platz der Herrlichkeit des Erlösers ist also zur rechten Hand Gottes. Christus Jesus gebrauchte den Ausdruck in demselben Sinne, als er auf die beharrliche Frage des Hohenpriesters: „Bist du Christus, der Sohn des Hochgelobten?” antwortete: „Ich bin’s; und ihr werdet sehen des Menschen Sohn sitzen zur rechten Hand der Kraft und kommen mit des Himmels Wolken”. Auch Markus berichtet, daß Jesus, nachdem er sich über den körperlichen Sinn erhoben hatte, „sitzet zur rechten Hand Gottes”.
Die Bezugnahme auf den Platz zur rechten Hand Gottes als Ehrenoder Machtstellung ging aus einer vermenschlichten Vorstellung von Gott hervor, und offenbar machte Jesus dieser allgemeinen Vorstellung von Gott ein Zugeständnis. Er kannte das Wesen Gottes sehr gut; denn hatte er nicht erklärt: „Gott ist Geist, und die ihn anbeten, die müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten”? Für ihn war die rechte Hand das Sinnbild, die bildliche Darstellung der Macht und der Ehre. Im Lichte der Offenbarung der Mrs. Eddy lernen wir verstehen, daß zur rechten Hand der Allmacht sitzen bedeutet, seine Gedanken mit dem Göttlichen in Übereinstimmung halten, sich der Tatsachen des Seins bewußt werden und nach dem Aufgeben der weltlichen Annahme in den ewigen Frieden des Geistes eingehen. Überdies ersehnen alle, die den Willen Gottes tun möchten, aufrichtigen Herzens das Erlangen dieses erhabenen Zustandes.
Die Möglichkeit, diese höchste aller Ehren zur rechten Hand Gottes zu erlangen, besteht für alle; denn sind nicht alle Menschen Gottes Kinder, Seine Geliebten, in gleichem Maße Gesegneten? Der wirkliche Mensch, Gottes vollkommene Idee, die den göttlichen Plan ausführt und immerdar den Willen Gottes tut, ist stets zu Seiner rechten Hand und erfreut sich der Ehre Seiner Billigung und des Segens Seines Schutzes. „Betätigung, nicht Bekenntnis, Verständnis, nicht Annahme, gewinnen das Ohr und die rechte Hand der Allmacht und rufen sicherlich unendliche Segnungen herab”. Mit diesen Worten enthüllt Mrs. Eddy auf Seite 15 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” den Vorgang, durch den wir die göttliche Billigung gewinnen können. Wir erlangen die rechte Hand der Allmacht und sitzen neben dem Throne Seiner Gnade, wenn wir unser Denken beständig zu dem Geistigen erheben, die falschen Annahmen, woraus das menschliche Bewußtsein in so großem Maße besteht, mit der geistigen Wahrheit zu ersetzen trachten, unser Bekenntnis täglich in die Tat umsetzen, damit unser Leben wenigstens einigermaßen mit dem Göttlichen übereinstimmt, und beharrlich an den Tatsachen der gegenwärtigen Vollkommenheit des Menschen — einer unwandelbaren und ewigen Vollkommenheit — festhalten.
Dies scheint vielleicht eine schwierige Aufgabe zu sein; aber wie gesegnet sind diejenigen, die mit hohem Wagemut und einem von Liebe zu ihren Nebenmenschen erglühenden Herzen sich daran machen, sie zu erfüllen! Nach weltlichen Ehren trachten ist in der Regel etwas Selbstsüchtiges; es erhöht die Persönlichkeit, unsern menschlichen Sinn der Selbstheit. Trachtet man aber nach der größten aller Ehren, nämlich zur rechten Hand des allmächtigen Guten zu sitzen, so läßt sich dieses Ziel nur in dem Maße erreichen, wie Selbstsucht der Selbstverleugnung weicht,— wie der menschliche Sinn dem Göttlichen weicht. Nur so rufen wir die unendlichen Segnungen herab, die Gott Seinen Geliebten schon verliehen hat.
Können die Sterblichen diesen himmlischen Zustand erreichen? Hat Jesus seinen treuen Nachfolgern nicht versichert: „Es ist eures Vaters Wohlgefallen, euch das Reich zu geben”? Und was ist dieses Reich anders als der Bewußtseinszustand, der nur das Göttliche widerspiegelt? Auf Seite 9 in „Pulpit and Preß” beschreibt Mrs. Eddy die Freude, die denen zuteil wird, die wahrhaft nach Läuterung ihres Lebens trachten: „Die Christen freuen sich im stillen, sie haben eine der Welt verborgene Fülle. Selbstvergessenheit, Reinheit und Liebe sind unermeßliche Schätze — beständige Gebete, Prophezeiungen und Salbungen”. Dieses Frohlocken ist verborgen, nicht weil es etwa selbstsüchtig wäre, sondern weil es aus dem bewußten Gefühl des Einsseins des Menschen mit Gott hervorgeht. Es ist das Sitzen „unter dem Schirm des Höchsten”, das, wie der Psalmist uns versichert, das Bleiben unter dem Schatten, d.h. unter dem Schutze des Allmächtigen — zur rechten Hand Gottes — bedeutet.
Die Fülle, die der Christ hat, ist nur den weltlich Gesinnten verborgen. Sie gehört allen Kindern Gottes, und alle können daran teilnehmen, wenn sie durch das Erlangen geistigen Verständnisses recht danach trachten. Das beständige Gebet der Reinheit, der selbstlosen Liebe, der Selbstverleugnung ist das Gebet, dem alle Segnungen des Vaters — Friede, Eintracht, dauernde Freude, ewiges Leben — zuteil werden. Zur rechten Hand der Allmacht ist wahrlich ein erhabener Zustand,— der Zustand, in dem der wirkliche Mensch, Gottes Sohn, immerdar weilt.