So wenig es im allgemeinen erkannt werden dürfte, Tatsache ist, daß das wahre Gebet ungeheure Macht hat, auf die unstete Welt beruhigend einzuwirken. Die unaufhörlichen Mißgeschicke des Menschengeschlechts zeigen, wie ungewiß in seinen Ergebnissen blinder Glaube gewesen ist. Nun hat aber die Christliche Wissenschaft geistiges Verständnis und die Wahrheit über selbstlose Liebe gebracht. In jenem inspirierenden Satze, mit dem unsere Führerin Mary Baker Eddy das Kapitel über Gebet — das erste Kapitel im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift”— einleitet, verknüpft sie Glauben und Verständnis und Liebe unumstößlich miteinander. Sie schreibt (S. 1): „Das Gebet, das die Sünder umwandelt und die Kranken heilt, ist ein absoluter Glaube, daß bei Gott alle Dinge möglich sind — ein geistiges Verständnis von Ihm, eine selbstlose Liebe”.
„Herr, lehre uns beten”. In dieser Bitte äußerte sich das größte Bedürfnis der Jünger Jesu, das auch heute noch das größte Bedürfnis der Menschen ist. Aber der sterbliche Sinn fragt vielleicht: Wo kann ich anfangen? Ich habe gebetet, gebittet, gefleht; aber es scheint, daß Gott mich nicht gehört hat. Ich bin immer noch krank, habe Sorgen und leide Not. Hierauf kann man erwidern: Am besten beginnt man recht beten zu lernen,— das Gebet zu beten, das eine Erhörung des liebenden Vaters bringt,— wenn man bestrebt ist, sich zu „selbstloser Liebe” emporzuarbeiten.
Die Sterblichen sind mehr oder weniger Wanderer in einer Wüste; sie hungern nach einem größeren Maße des Christusgeistes, mit dem Jesus in so reichem Maße ausgerüstet war. Wenige haben sich bis jetzt zu der bewährten Höhe erhoben, wo der falsche Ichbegriff keine Beachtung beansprucht. Aber sterbliche Ansichten und Methoden sind nicht das, was die Welt braucht. Sie bedarf jener „selbstlosen Liebe”, die verständnisvoll denen hilft, die vielleicht in Not sind, jener Liebe, die geistiges Licht widerspiegelt, womit man dem im menschlichen Leben vorkommenden scheinbaren Bösen — der Sünde, der Krankheit, dem Tode — entgegenwirken kann.
„Selbstlose Liebe”! Dieses herrliche Wort mag dem in Stolz und Selbstgenüge erzogenen ungestümen Denken nicht sofort klar werden. Es wird noch vieler Erfahrungen und Lehren bedürfen, bis „selbstlose Liebe” so verstanden wird, daß sie eine praktische Hilfe ist. Stolz und Anmaßung nehmen eine herrische Rechtfertigung an, die die Sterblichen täuscht. Aber alle müssen die Täuschung durchschauen lernen.
Es kann sich die Frage erheben: Was ist „selbstlose Liebe”? Soll man buchstäblich alles, was man hat, verkaufen und den Armen geben? Soll man jede Phase des Menschentums, ob würdig oder unwürdig, unterschiedslos mit Mitgefühl und Zuneigung überschütten? Trotz unseres Verlangens, zu verstehen, mag die Antwort noch unklar sein. Selbst wenn wir das Verlangen haben, die Lösung zu finden, mögen wir die menschlichen Bekundungen von Herzensgüte übersehen. Wir können z.B. im geschäftigen Treiben einer Stadt sehen, daß sich jemand die Zeit nimmt, Samen auf einen Fenstersims zu streuen, und beobachten, wie sich die Vögel über das verabreichte Futter freuen. Wir mögen jemand Wasser für diese kleinen gefiederten Besucher liebevoll bereitstellen sehen. Und weil wir nicht verstehen, was unsern Nächsten zu seiner Güte veranlaßte, fragen wir uns wohl weiter, was Mrs. Eddy unter „selbstloser Liebe” verstand.
Solch kleine Begebenheiten, die ein beständig größer werdendes Feld der Güte verheißen, sind wie auf den Lebensweg gestreute schöne Blumen. Wenn spontane Innigkeit ein Teil unseres Lebens wird, wird der Glaube an Gott unerschütterlich. Selbst wenn diese sanfte Liebe unserem eigenen Bewußtsein vorderhand vielleicht noch völlig fremd zu sein scheint, können wir den zarten Zug an anderen bewundern, ergründen und zu verstehen suchen. Dies mag wohl ein kleiner Anfang sein; aber immerhin ist es ein Anfang. Und die Gabe, die wir an anderen schätzen, wird sich mit der Zeit auch in uns zeigen; denn die göttliche Liebe ist unparteiisch.
Auf Seite 201 in Wissenschaft und Gesundheit schreibt unsere Führerin: „Gefäße, die schon voll sind, können wir nicht füllen. Sie müssen erst geleert werden. Laßt uns den Irrtum entblößen. Wenn dann die Winde Gottes wehen, werden wir uns nicht fest in unsre Lumpen hüllen”. Es steht uns immer frei, aus unserem Denken Bitterkeit, Verzagtheit und Haß zu entfernen. Wenn das sterbliche Argument weiter darauf besteht, Gleichgültigkeit und Mangel an Liebe aufdringlich geltend zu machen, können wir uns weigern, uns in diese Lumpen zu hüllen. Die „Winde Gottes”, des Guten, werden diese falschen Annahmen wegwehen, und wir werden ungehindert Gott entgegengehen.
