Das menschliche Leben jedes einzelnen ist ein beständiger Zwiespalt zwischen Anschein und Tatsache. Das wichtigste Beispiel ist, daß das Dasein der Menschen einen Anfang genommen zu haben und in Gefahr zu sein scheint, ein Ende zu nehmen. Tatsächlich fängt etwas Wirkliches weder an, noch hört es auf. Diese Tatsache, die auf dem Prinzip anstatt auf dem gegenteiligen Schein beruht, ist eine der wichtigsten Wahrheiten, die jedermann wissen und anwenden sollte. Der Glaube, daß das Leben einen Anfang nahm, schließt den Glauben in sich, daß es auch ein Ende nehmen müsse. Im Gegensatz zu diesen beiden und zu anderen damit zusammenhängenden Annahmen steht die geistige Tatsache, daß das individuelle Leben weder beginnt noch endet; es ist das ewige Entfalten im unendlichen Leben (siehe „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” von Mary Baker Eddy, Seite 335, Zeile 24; Seite 502, Zeile 27).
Ein anderes Beispiel des Zwiespalts zwischen Anschein und Tatsache ist, daß die Fähigkeiten und Gaben jedes Menschen — seine wünschenswerten Eigenschaften — scheinbar anfangen, zunehmen, vorübergehend einen Höhepunkt erreichen und dann in Gefahr sind, abzunehmen und verlorenzugehen. Dieser dem Glauben an Geburt und Tod ganz ähnliche Irrtum ist einer der schlimmsten aller Irrtümer, er ist einer der verderblichsten und furchterregendsten. Zu seinen wohlbekannten Folgen gehören Verlust an Schönheit, Gesundheit, Tüchtigkeit und Kraft. Eine der weniger bekannten Folgen ist, daß dieser Irrtum eine Menge brauchbarer Leute von verdienter Beschäftigung ausschließt. Eine diesem Anschein entsprechende Gegentatsache ist die geistige Wahrheit, daß der Mensch weder zunoch abnimmt. Der Mensch besteht zugleich mit Gott—„Gott gibt alles, und der Mensch hat alles, was Gott gibt” (The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany, S. 5).
Den in den vorstehenden Paragraphen erwähnten Irrtümern und den ihnen entgegengesetzten Wahrheiten sollte man nicht nur dann genügend Aufmerksamkeit schenken, wenn besondere Veranlassung vorliegt, sondern Christliche Wissenschafter sollten sie auch häufig und regelmäßig beachten. Wir sollten solchen Scheinzuständen die geistigen Tatsachen des Seins entgegenstellten, ohne besondere Gelegenheiten abzuwarten; denn in solchen Fragen ist standhaftes Behaupten der wissenschaftlichen Haltung für uns und für jedermann von großem Vorteil. Wir sollten es nicht nur um unseres eigenen Vorteils willen tun oder um gewissen Personen, denen wir besonders verpflichtet sind, zu helfen, sondern wir sollten die Tatsachen des Seins in diesen Punkten auch zum Wohle der ganzen Menschheit behaupten. In dieser Weise können wir die Liebe widerspiegeln, die allumfassend ist.
Den in den vorstehenden Paragraphen erwähnten Irrtümern nah verwandt ist der Anschein, daß alle wünschenswerten Errungenschaften langwierige, Zeit in Anspruch nehmende Vorgänge erfordern. In seinen Folgen ist dieser Irrtum nicht so schlimm wie die anderen. Ja, er bietet sogar Gelegenheit zur Übung von Tugenden wie Geduld und Ausdauer. Nichtsdestoweniger ist die erwähnte Annahme eine Phase des Bösen, die im menschlichen Denken tief eingewurzelt ist. Als eine ihrer Wirkungen finden wir, daß sie das Heilen verzögert, das Vollbringen mühsam macht und das Erreichen und den Genuß des Guten auf zahllose Arten hindert und in die Länge zieht. Mit seinen mächtigen Werken bewies der Meister unter anderem, daß der allgemeine Glaube, daß Vorgänge an Zeit gebunden seien, überwunden werden kann, vergl. z.B. Markus 6, 35–44 und Joh. 6, 21. Eine hierzu passende Stelle von Mrs. Eddy findet sich in „Unity of Good”, Seite 11, Zeile 3. Der Offenbarer erkannte, daß „hinfort keine Zeit mehr sein soll” (Offenb. 10, 6); und in Wirklichkeit bestehen alles Sein und alle seine Möglichkeiten gegenwärtig im ewigen Jetzt.
Jedermann gibt zu, daß Krankheit eine der nachteiligsten Seiten des menschlichen Lebens ist. Viele Leute geben auch zu, daß Krankheit immer abnorm und oft eingebildet ist. Die Christliche Wissenschaft geht noch weiter: sie sieht alles Ungesunde als bloßen Schein an, der in keiner Beziehung zur Wirklichkeit steht. Diese göttliche Metaphysik führt alle Krankheit auf einen angenommenen Glauben zurück und stellt dann den Glauben als Illusion bloß. „Die Wirklichkeit”, erklärt Mrs. Eddy, „ist geistig, harmonisch, unwandelbar, unsterblich, göttlich und ewig” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 335). Sie entdeckte das Gesetz des christlichen Heilens und die Regel der praktischen Anwendung dieses Gesetzes. Die Regel ist, kurz gefaßt, daß der Ausüber, der unbedingt geistig gesinnt sein muß, die Wahrheit, die den Irrtum im betreffenden Falle berichtigen und zerstören wird, wissen muß. Ist dies geschehen, so folgt die gewünschte Wirkung kraft des durch geistiges Gesetz wirkenden göttlichen Prinzips. Das christlich-wissenschaftliche Heilen besteht also darin, daß die Wirklichkeit in Übereinstimmung mit dem göttlichen Gesetz bewiesen wird; es besteht darin, daß man sich Tatschen anstatt Scheinzustände vergegenwärtigt.
