Ein Teil der Erklärung des Wortes „ausüben” in Websters Wörterbuch lautet: „Gewisse Handlungen oft oder gewohnheitsmäßig ausführen, um sich Fertigkeit oder Geschicklichkeit anzueignen”. Auf Grund dieser Erklärung sieht man, daß jede Begebenheit im Tage des Christlichen Wissenschafters eine Gelegenheit ist, die Handlung wissenschaftlichen Wissens auszuführen, um geistige Fertigkeit zu erlangen. „Übung macht den Meister”, sind wir als Kinder gelehrt worden. Dies trifft in viel größerem Maße zu, als wir damals wußten. Üben wir uns, den Menschen als den Ausdruck des unendlichen Geistes zu sehen, so vervollkommnet sich unser Begriff. Der Schüler, der so durch beständiges Üben ein gewisses Maß von Fertigkeit erlangt hat, an Stelle der sterblichen Auffassung des Menschen die unsterbliche Wahrheit über den Menschen zu setzen, und von dieser Fähigkeit Gebrauch macht, um anderen zu helfen, ist ein Ausüber.
Was für ein Verhältnis besteht zwischen dem Ausüber und dem sogenannten Patienten? An einem sehr trüben und bewölkten Tage gehen wir ans Fenster, um besseres Licht für unsere Arbeit zu haben. Ebenso können wir, wenn uns die finsteren Wolken eines Problems umgeben, es für weise halten, uns an jemand zu wenden, dessen Bewußtsein das Licht der Wahrheit im Augenblicke klarer widerspiegelt, als unser eigenes Denken es kann. Dieses Gehen eines Menschen, der Licht braucht, zu jemand anders, dessen Bewußtsein das göttliche Licht widerspiegelt, versinnbildlicht das Verhältnis zwischen Patient und Ausüber.
Der Patient muß von Anfang an, wenn auch in noch so geringem Maße, beginnen, ein Ausüber zu sein. Das auszuarbeitende Problem, sei es sittlicher, körperlicher oder geschäftlicher Art, wird sich ohne Zweifel schneller lösen, wenn der Patient von ganzem Herzen mit seinem Helfer zusammenarbeitet. Der Patient, der in dieser Weise mitarbeitet, hat Gelegenheit, viele Eigenschaften des göttlichen Gemüts und auch viele jener sittlichen Übergangseigenschaften, die zum göttlichen Gemüt hinstreben, zu üben. Eine wichtige Eigenschaft ist Gehorsam, der unter anderem dadurch geübt werden muß, daß man bereitwillig aufhört, das Problem, wie es war, ist oder sein wird, zu betrachten. Dadurch bleibt das Bewußtsein für vernünftiges, geistiges Denken frei und jenem freudigen Erwarten, das im menschlichen Leben eine unschätzbare Hilfe ist, zugänglich.
Das Verhältnis zwischen Ausüber und Patient besteht nur vorübergehend; es dauert umso kürzer, je bessere Arbeit beide leisten. Der echte Ausüber der Christlichen Wissenschaft erwirbt sich keinen Einfluß, keine Herrschaft, keine Aufsicht über seine Patienten. Seine Pflicht ist, zu dienen, nicht sich irgend welche Überwachung der Person, des Haushaltes oder der Angelegenheiten seines Patienten anzumaßen. Er muß Demut, Weisheit, Selbstlosigkeit zum Ausdruck bringen. Und wenn er nicht Erbarmen, Sanftmut, Furchtlosigkeit, Stärke und Liebe ausdrückt, kann keine Heilung erfolgen.
Der Ausüber ist seinem Patienten ein wahrer Freund, wenn er sein Amt richtig versieht; dies braucht aber nicht unbedingt eine menschliche Freundschaft im gewöhnlichen Sinne des Wortes zu sein. Ja, ein gewöhnliches, menschliches Freundschaftsverhältnis kann ein ungezwungenes und wirksames Zusammenarbeiten von Ausüber und Patient zuweilen erschweren.
Das Verhältnis zwischen Patient und Ausüber sollte also frei und unpersönlich, sollte eine vorübergehende Zusammengehörigkeit sein, deren Band und Ziel geistig ist und darin besteht, in jedem gegebenen Falle den Willen der göttlichen Liebe zu entdecken und zu beweisen. Und der weise Ausüber ermutigt liebevoll alle, die ihn um Rat fragen, ihre Arbeit möglichst selber zu tun. Jeder Schüler sollte bestrebt sein, in dem Sinne ein Ausüber zu sein, daß er unabhängig anwendet, was er weiß; und jeder Ausüber sollte bestrebt sein, in seinem Leben der Bedeutung des von unserer Führerin so oft gebrauchten Wortes „Heiler” gerecht zu werden.
Es gibt wenige, die sich zu Beginn ihrer Arbeit nicht einmal dazu verleiten ließen, hinsichtlich der zu unternehmenden menschlichen Schritte einen bestimmten Rat zu erteilen. Ein solches Vorgehen führt fast nie zu etwas Gutem. Es erfordert Weisheit und Liebe, dem beunruhigten jungen Schüler zuweilen zu zeigen, daß ihm mehr göttliches Licht, ein geistigerer Blick not tut. Durch die Erkenntnis des erfahreneren Arbeiters, daß der geistige Mensch jede rechte Idee zu eigen hat, werden dem gewissenhaften jungen Schüler in natürlicher Weise und unausbleiblich die rechten menschlichen Schritte offenbar, die er zu machen hat.
Der Ausüber kann nicht hingebungsvoll genug sein und nicht ernst genug beten, wenn er dem aus dem sich öffnenden Herzen hervorbrechenden Strom des Irrtums mit der starken, frohen Versicherung der Wahrheit entgegenzutreten sucht. Und nur die göttliche Liebe kann ihm sagen, wieviel oder wie wenig ein Neuling in sich aufnehmen kann. Man braucht dem Sucher bei seinem ersten Besuche nicht alles zu sagen, was man von der Christlichen Wissenschaft weiß. Das könnte zur Folge haben, daß sein erster Besuch auch der letzte ist. Aber der Neuling hat das Recht, einfache, geistige Anleitungen, die „wenigen Wahrheiten liebreich mitgeteilt” (Miscellaneous Writings, S. 354) zu erwarten, die er in sich aufnehmen kann.
Nur durch geistige Eingebung kann der Ausüber genug Geistigkeit widerspiegeln, um andere anzuspornen. „Der echte Christliche Wissenschafter trägt”, wie Mrs. Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 375) schreibt, „zur mentalen und sittlichen Kraft seines Patienten bei und vermehrt dessen Geistigkeit, während er ihn physisch durch die göttliche Liebe wiederherstellt”.
Der 4. Vers des 50. Kapitels des Buches Jesaja scheint auf den christlich-wissenschaftlichen Ausüber besonders anwendbar zu sein. Er lautet: „Der Herr, Herr hat mir eine gelehrte Zunge gegeben, daß ich wisse mit dem Müden zu rechter Zeit zu reden. Er weckt mich alle Morgen; er weckt mir das Ohr, daß ich höre wie ein Jünger”. Dem Arbeiter, der das göttliche Gemüt sein Denken Tag für Tag zu den Wahrheiten des Seins erwecken läßt, wird es nie an göttlicher Eingebung mangeln. Es ist jedoch unumgänglich notwendig, täglich zu arbeiten, um so erweckt zu werden.
Einer der Ansprüche des sterblichen Gemüts, der versucht, im Zusammenhang mit dem christlich-wissenschaftlichen Ausüber zu wirken, ist Überbürdung. Er muß daher wachen, daß er sich nicht versuchen läßt, Arbeit, Zeit oder Mühe auf etwas zu verwenden, was zu keinen erwünschten Ergebnissen führt oder nicht gebührend geschätzt wird. Wir müssen den Wert der Hilfe in der Christlichen Wissenschaft erkennen und dürfen uns vom Irrtum keine unnötige Arbeit, die andere tun sollten, aufladen lassen. Der weise Arbeiter sichert sich die nötige Zeit zum Studium und zu rechter Erholung. Was wäre dem sogenannten Bösen lieber als den ernsten christlichen Kämpfer dadurch zu überbürden, daß es ihm mehr Arbeit auflädt, als er ausführen kann, oder ihn zu veranlassen, seinen wertvollen Dienst auf wirkungslose Art zu vergeuden? Man sollte nie vergessen, daß man keine wirksame Arbeit für andere tun kann, solange man sie nicht weise und recht für sich selber getan hat. Sehr oft müssen Ausüber einsichtsvoll unterscheiden, damit sie nicht in unehrlicher Weise mißbraucht werden; und auf keinen Fall sollte der Irrtum in dem wachsamen Christlichen Wissenschafter leichte Beute finden.
Im Evangelium des Lukas lesen wir: „Und er [Jesus] lehrte des Tages im Tempel; des Nachts aber ging er hinaus und blieb über Nacht am Ölberge”. Wenn Jesus der stillen Gemeinschaft mit Gott bedurfte, wenn er geistige Erfrischung brauchte, um seine Inspiration klar zu erhalten, dann braucht sie sicher heute jeder Christliche Wissenschafter auf Erden auch. Die Arbeit des Ausübers ist ein geheiligtes unaufhörliches Ausgießen widergespiegelter Weisheit und Wahrheit; und wenn das Einströmen geistiger Inspiration nicht in gleichem Maße erfolgt, wie sie gegen andere zum Ausdruck kommt, kann es zu geistiger Leere führen.
Die Heilarbeit bietet reiche Abwechslung an Aufgaben: scheinbar unbegrenzten Erscheinungsformen des Irrtums ist mit unbegrenzten Ideen der Wahrheit entgegenzutreten. Und so unendlich ist die Wahrheit, daß man an jede Aufgabe auf die verschiedenste Art und Weise im Denken herantreten kann. Durch das Beweisen des beständig sich erneuernden geistigen Gesichtspunktes bleibt die Freude an der Arbeit und die Begeisterung dafür erhalten.
Erfahrung und zunehmende Geistigkeit befähigen den Arbeiter, Gesinnungszustände zu zergliedern und jedes besondere menschliche Bedürfnis zu erkennen. Die zunehmende Geschicklichkeit, die Wahrheit klar, lebendig und überzeugend zu erklären und den Irrtum zu leugnen, hilft ihm, die Erkenntnis der Allheit Gottes zu erlangen und anderen mitzuteilen. So lernt er das scheinbar an ihn herantretende Böse auf sein ursprüngliches Nichts zurückführen.
Der Ausüber erkennt bei seiner ganzen Arbeit, daß Gott immer gegenwärtig ist, und daß Gott die einzige Quelle der Versorgung ist. Muß dann diese beständige Versorgung nicht auf menschlich faßbare Art in Fülle kund werden? Wenn der Schüler aufhört zu glauben, daß sein Bewußtsein begrenzt sei, sieht er auch frohe und reiche Versorgung aller seiner Bedürfnisse an Stelle von Mangel und Begrenzung treten.
Wer die Christliche Wissenschaft um Hilfe angeht, muß willens sein, jede vorgefaßte Meinung von dieser Wissenschaft abzulegen. Er muß willens sein, sie als das anzunehmen, was sie ist,— als geistiges, unwandelbares Gesetz, das verstanden und angewandt werden muß. Die Christliche Wissenschaft ist anwendbar; sie ist auf jeden irdischen Umstand anzuwenden.
Dankbarkeit gehört zur Arbeit des Hilfesuchenden. Sie öffnet der Heilung die Tür weit. Der Ausüber kann für seine Zeit bezahlt werden; aber nur frohes Wachstum im Anwenden der geistigen Wahrheit kann unsere Schuld gegen Gott abtragen. Auch der Ausüber muß sich über Dankbarkeit klar sein und muß sie zum Ausdruck bringen. Jeder aufrichtige, gewissenhafte Arbeiter weiß, daß es kein erhebenderes, köstlicheres Erlebnis gibt, als Zeuge einer mit geistigen Mitteln zustande gebrachten Heilung zu sein. Und mit wachsender Dankbarkeit wächst auch die Erwartung, die geistige Fertigkeit und die Beweisführung. Niemand sollte sich mit weniger als einem beständigen Entfalten der Heilfähigkeit zufrieden geben.
Der christlich-wissenschaftliche Ausüber muß sein tägliches Leben fortschreitend in Übereinstimmung mit dem göttlichen Prinzip bringen lernen. Er muß nicht nur jedes Gebot Mose’s gewissenhaft befolgen sondern auch der Lauterkeit und der Sittlichkeit die in den Seligpreisungen und in der genauen Metaphysik der „wissenschaftlichen Erklärung des Seins” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 468) verkörperten Tugenden des Geistes beständig hinzufügen. Nur so kann sich das Denken weit genug über das Materielle erheben, um alle Menschen zu Christus, der Wahrheit, zu ziehen. Die Behandlung ist nur in dem Maße geistig mächtig, wie Christlichkeit des Denkens dies ermöglicht. Gibt es auf Erden einen heiligeren Beruf als das ehrliche Bemühen, die Lehren des Meisterchristen treu und in fortschreitendem Maße zu befolgen?
Der treue Ausüber ist von der christlich-wissenschaftlichen Organisation nie unabhängig. Er muß in enger und treuer Berührung mit Der Mutter-Kirche und, wenn möglich, mit einer Zweigkirche bleiben. Das Kirchenhandbuch muß beständig sein Führer sein, wenn er in dem großen Unternehmen des Überwindens der Ansprüche der Materie durch die Kraft des Geistes Fortschritt machen will. Der treue Arbeiter findet in den berechtigten christlich-wissenschaftlichen Schriften einen reichen Schatz an reinem geistigen Wissen, und sowohl er als auch sein Patient benützt für sein Eindringen in die Christliche Wissenschaft nur diese berechtigten Schriften.
Durch dieses Eindringen und Ausüben erlangt sowohl der Ausüber als auch der Schüler, der für den Augenblick Patient sein mag, immer mehr Übung in der geistigen Fähigkeit, die Unwirklichkeit des Bösen zu erkennen und das Gute zu beweisen. Mit beständig zunehmender Fertigkeit in rechtem Denken braucht der Patient nicht mehr Patient zu sein; und wenn einst aller Glaube an den Irrtum ausgerottet ist, und Gott allgemein als das All in allem erkannt wird, werden keine Ausüber mehr nötig sein.
Der hingebungsvolle Schüler der Christlichen Wissenschaft dringt freudig vorwärts. Er lernt verstehen, daß nur der Geist und die geistige Schöpfung wirklich sind. Und er erkennt, daß seine Freude nur durch Demut, Intelligenz, Hingebung und Wachstum zunehmen und zu uneingeschränkter Befriedigung und Herrschaft führen kann.