Durch das ganze Alte und Neue Testament hindurch begegnen wir immer wieder dem Gedanken der Barmherzigkeit und Langmut Gottes. In dem Maße, wie die Vorstellung der Menschen von Gott geistiger wird, breitet sich dieser Gedanke aus, nimmt an Nachdruck zu und wird über dem sterblichen Lärm der vielen falschen Vorstellungen vom göttlichen Willen und Charakter vernehmbar. Im Neuen Testament findet er uneingeschränkten Ausdruck in den Worten und Werken Christi Jesu, der wie kein Mensch vor ihm sprach und handelte. Und Erzväter, Gesetzgeber, Richter, Könige und Propheten ermahnten das Volk, an Gottes Barmherzigkeit zu denken und gegen Menschen und Tiere barmherzig zu sein.
Abraham legte Fürsprache ein, daß den wenigen Gerechten in den gottlosen Städten Barmherzigkeit widerfahren möge. Da er die geistige Tugend Barmherzigkeit gepflegt hatte, konnte er die Stimme der Wahrheit vernehmen, die seine falsche Auffassung von Opfer verdrängte, ihn das wahre Wesen der Forderung Gottes erkennen ließ und ihm so seinen geliebten Sohn Isaak wiedergab.
Ebenso konnte Joseph durch sein durch Gehorsam gegen seine höchste Erkenntnis erlangtes vergeistigtes Denken die Barmherzigkeit Gottes verstehen, der die boshafte Absicht seiner Brüder vereitelt hatte, und er selber konnte sie überzeugen, daß er ihnen ihre Grausamkeit vergeben hatte. Josephs Beispiel hat bis heute nicht im geringsten etwas von seiner Lebenskraft eingebüßt.
Infolge himmlischer Eingebung stellte der demütige und geduldige Mose den Gnadenstuhl auf die Bundeslade, über die sich die Flügel der Cherubim breiteten. Er teilte dem Volk mit, daß Gott ihm hier bei dem Gnadenstuhl begegnen und ihm Gebote geben werde, die sie halten sollen. Freistädte wurden vorgesehen, wo Übeltäter Sicherheit finden konnten, bis sie der Gemeinde zum Gericht vorgeführt wurden. Auch der Prophet Micha erklärte, daß Gott von uns fordert, daß wir Barmherzigkeit üben.
Jesus wußte bei seiner Kenntnis des hebräischen Gesetzes und der Weissagungen zweifellos, daß er Hoseas Gedanken zum Ausdruck brachte, als er die Pharisäer scharf zurechtwies mit den Worten: „Gehet aber hin und lernet, was das sei: ‚Ich habe Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer‘. Ich bin gekommen, die Sünder zur Buße zu rufen, und nicht die Gerechten”. Jesus saß mit einigen Zöllnern und Sündern zu Tisch, als Scheinheiligkeit und Selbstgerechtigkeit seinen gerechten Spott herausforderten. Er war ein barmherziger Freund denen, die sich zu ihm und seinen Jüngern gesellten und gern auf sein Evangelium vom Reich Gottes im wahren Bewußtsein hörten. In ähnlicher Weise versammelten sich um unsere Führerin ihre ersten Schüler. Nicht viele Edle und Mächtige wurden gerufen, oder sie schenkten, wenn sie gerufen wurden, dem Ruf keine Beachtung.
Die Christliche Wissenschaft, wie die auf die Menschen anwendbare Entdeckung der Mrs. Eddy heißt, lehrt, daß Gottes Wesen durch Seine Eigenschaften verständlich wird. Die Nutzbarmachung dieser Eigenschaften bewirkt im menschlichen Bewußtsein ein Erneuern der Zuneigungen und ein bleibendes Vertrauen auf Gott, die unwandelbare göttliche Liebe. Gottes Eigenschaften „sind Gerechtigkeit, Barmherzigkeit, Weisheit, Güte usw.” (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, S. 465). Daher kommt Gottes Wesen in einer Verschmelzung dieser Eigenschaften zum Ausdruck, wie wir es im Leben Christi Jesu veranschaulicht finden. Was die Sterblichen vielleicht Gerechtigkeit nennen, ist nicht Gottes Gerechtigkeit, wenn nicht Barmherzigkeit damit verbunden ist. Ebensowenig ist eine menschliche Auffassung von Gnade ohne Weisheit Gottes Gnade. Und Güte ist nur dann wahre Güte, wenn sie mit Weisheit, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit vereint ist.
Die bei der Einweihung der Kirche in Concord in New Hampshire, einem Geschenk unserer Führerin, vorgelesenen und in „The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany” (S. 162) aufgezeichneten Worte: „Gottes Barmherzigkeit mit der sterblichen Unwissenheit und Not ist gewiß; wer kann dann bezweifeln, daß uns ein stärkerer Glaube an Seine ‚Hilfe in den großen Nöten‘ not tut?” machten an jenem denkwürdigen Tage tiefen Eindruck auf die Zuhörer. Ihre tiefe Bedeutung wurde bald darauf einer Christlichen Wissenschafterin, die über die Worte nachgedacht hatte, bewiesen. Ihr Vater hatte sie an das Krankenbett ihrer Mutter rufen lassen, und es wurde ihr gesagt, daß keine Hoffnung auf Wiederherstellung der geliebten Mutter bestehe. Die Christliche Wissenschafterin wurde gebeten, zu unterlassen, ihre Ansichten zu äußern; aber sie durfte in das Krankenzimmer gehen, wo sie sich in die hinterste Ecke zurückzog. Obgleich sie ihre ganze Liebe aufbot, machte sie doch keine bewußte Anstrengung, die Christliche Wissenschaft anzuwenden. Sie harrte vielmehr ehrfurchtsund erwartungsvoll des Wirkens der Wahrheit der Christlichen Wissenschaft. Wogen der Furcht und sterblicher Annahmen schienen hereinzustürmen und dann zu verebben, dann wieder zu branden, um abermals zu verebben, während sie wußte, daß die Wahrheit alles beherrscht. Die Tür ging auf, und der Gatte und Vater trat ein, das weiße Haupt in ergebenem Leid gesenkt. „Sterbliche Unwissenheit und Not” rief aus: Wie schade, daß er, ein Prediger des Evangeliums, ein Bischof der Kirche, nicht versteht, Gott um Heilung zu bitten! Sofort schien ein Glorienschein der Barmherzigkeit das Zimmer zu erfüllen und alles zu überschatten. Dann kamen ihr — und zwar gleichzeitig mit dem Erscheinen des geistigen Lichts — klar und rein die Worte unserer Führerin in den Sinn: „Gottes Barmherzigkeit mit der sterblichen Unwissenheit und Not ist gewiß; wer kann dann bezweifeln, daß uns ein stärkerer Glaube an Seine ‚Hilfe in den großen Nöten‘ not tut?” Sehr bald zeigte sich eine beträchtliche Änderung im Zustande der Kranken, und die Christliche Wissenschafterin wußte, daß die Heilung gewiß war. Als die Mutter später zum Fenster hinausschaute, schien es ihr, wie sie bemerkte, als ob die ganze Natur rein gewaschen worden sei. Dieses Erlebnis enthüllte die Tatsache, daß Vorwurf wegen Mangel an Glauben an Gott im Gemüt der Sterblichen, nicht aber im göttlichen Gemüt besteht. Denn als Gottes Barmherzigkeit vergegenwärtigt wurde, war seine Nichtsheit bewiesen.
Wenn Mitglieder die Glaubenssätze Der Mutterkirche unterzeichnen, verpflichten sie sich, barmherzig zu sein. „Der Satan ist nur für kurze Zeit losgelassen, wie der Offenbarer voraussah, und jetzt und immerdar sind Liebe und Wohlwollen gegen den Menschen, lieblicher als ein Scepter, auf den Thron erhoben” (in dems. Buche, S. 201).
Die Aufgabe unserer Führerin, „sein Eigentum”— ihre Nachfolger — zu führen, war unfaßbar groß. Es ließ sie nicht zur Ruhe kommen; doch sie achtete es für eitel Freude, den Menschen diese große Gnadengabe, die Christliche Wissenschaft, zu bringen. Unser Anliegen sollte sein, ihr nachzufolgen, wie sie Christus nachfolgte.
