Wie wunderbar und ermutigend es ist, daß wir in den Evangelien einen so klaren Bericht über einige der Versuchungen haben, denen, Jesus widerstand, so daß wir uns ein klares Bild machen können, wie er mit dem Irrtum verfuhr! Unmittelbar nachdem Jesus sein Amt als Prophet angetreten hatte und von Johannes öffentlich getauft worden war, ward er vom Geist in die Wüste geführt,—jenes Sinnbild innerer Einsamkeit und quälender Zweifel und Befürchtungen, jener in den in Wüsten weilenden wilden Tieren verkörperten Einflüsterungen des fleischlichen Gemüts.
Wir lesen, daß Jesus 40 Tage lang fastete—sich enthielt, die Ansprüche der materiellen Sinne zuzugeben. Wir dürfen wohl annehmen, daß er Tag und Nacht mit dem Geist in Gemeinschaft war und die Lüste des Fleisches dadurch überwand, daß er sein Bewußtsein von Gedanken der Wahrheit und der Liebe erfüllt hielt. Jesus war kein Büßer und ging sicher nicht in die Wüste, um zu sehen, wie lange er sich des Essens würde enthalten können. Sein Hunger nach Geistigkeit, sein Verlangen nach einem höheren Verständnis der Kraft des Geistes ließ ihn die Einsamkeit aufsuchen. Das war grundverschieden von Einsiedelei. Die Einsiedler gingen zwar auch in dem ernsten Verlangen nach Heiligkeit in die Wüste; aber sie betonten die materielle und buchstäbliche Bedeutung der Versuchung Jesu. Sie versuchten das Fleisch—den materiellen Sinn—durch materielle Mittel zu überwinden.
Denkt man über den Körper und darüber nach, wie man ihn überwinden kann, so ist das Denken immer mit körperlichen Zuständen beschäftigt. Das Denken geistig speisen, heißt materielle Begierden auf wissenschaftliche Art überwinden. Elia bewies dies bei einem ähnlichen Erlebnis. Er wurde von Engeln oder geistigen Botschaften von Gott aufrecht erhalten, und er „ging durch Kraft derselben Speise vierzig Tage und vierzig Nächte”, bis er geläutert und geistig stark genug war, auf den Berg Horeb—die Bewußtseinserhebung oder -höhe, wo Gott ihm weiter offenbar wurde—zu gehen.
Nachdem der Meister viele Tage und Nächte im Gebet und in der Gemeinschaft mit Gott zugebracht hatte, sagte der Versucher zu ihm: „Bist du Gottes Sohn, so sprich, daß diese Steine Brot werden”. Diese bedingte Redeweise schließt eine Andeutung von Zweifel in sich. Was ist Zweifel? Inneres Zögern, Unschlüssigkeit, Ungewißheit betreffs der Wahrheit. Das lateinische Wort dubitare für zweifeln bedeutet geteilten Sinnes sein. Wir halten Zweifel im Denken Jesu für undenkbar; aber hier sehen wir, daß er ihm eingeflüstert wurde. Jesus verhandelte nicht mit dem Irrtum; er schenkte dem Hohn, der Einflüsterung keine Beachtung, sondern antwortete unumwunden und unpersönlich mit dem Wort Gottes: „Es steht geschrieben: ‚Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern von einem jeglichen Wort, das durch den Mund Gottes geht‘”. Er erklärte die Wahrheit und gewann dadurch den Sieg über die körperlichen Sinne.
Lukas berichtet dann, wie Jesus, als er in der Einsamkeit nachdachte, einer andern Irrtumsform entgegenzutreten hatte. Einflüsterungen von Verstandeskraft und persönlichem Ehrgeiz hoben ihn auf Höhen menschlichen Denkens und zeigten ihm die ganze Welt und die Herrlichkeit ihrer Reiche, führten ihm den bequemen Weg vor Augen, die Macht, die, wie man sich doch so angenehm vorstellen konnte, in wohltätiger Weise angewandt werden könnte, um die Völker zu einem besseren und glücklicheren Leben emporzuheben. Der ganze Glanz der Bewunderung, der Freundschaft, der Macht und der Gelehrsamkeit, die ganze Veredlung durch Kunst und Wissenschaft, die Freuden eines verfeinerten Lebens, alles, was ihn in den Augen der Menschen sogar noch größer machen konnte als Salomo, war vor seiner Vorstellungskraft ausgebreitet. Aber wieder gab es ein „wenn”: „Wenn du ... mich anbetest”. Und wieder antwortete Jesus auf den Versuchergedanken mit dem Wort Gottes: „Es steht geschrieben: ‚Du sollst Gott, deinen Herrn, anbeten und ihm allein dienen‘”. Er weigerte sich, niederzufallen und die Weltlichkeit anzubeten. Er konnte nicht zwei Herrn dienen und wies die Einflüsterungen von Beliebtheit und persönlicher Überlegenheit unnachgiebig zurück.
Nach dieser Niederlage kam der beharrliche Versucher in anderer Verkleidung. Als Jesus in Gedanken die Zinne des Tempels erreicht hatte, kam die Einflüsterung: „Bist du Gottes Sohn, so laß dich hinab; denn es steht geschrieben: ‚Er wird seinen Engeln über dir Befehl tun, und sie werden dich auf den Händen tragen, auf daß du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest‘”. Kann diese Versuchung nicht die Einflüsterung gewesen sein, nachdem er nun eine solch große Herrschaft über das sterbliche Gemüt und den sterblichen Körper erlangt hatte,—denn eine geistige Bedeutung des Wortes „Tempel” ist Körper—diese Macht zu einem niederen oder eigennützigen Zweck zu gebrauchen, von der Höhe geistigen Bewußtseins geflissentlich hinabzusteigen, indem er sich in Gedanken dazu herbeiließ, dem sterblichen Glauben zu frönen und sich dann, um den Folgen zu entgehen, auf sein Verständnis mentaler Tätigkeit zu verlassen? Jesus erkannte die Hinterlist und erwiderte wie zuvor mit einer Erklärung aus dem Worte Gottes: „‚Du sollst Gott, deinen Herrn, nicht versuchen‘”, womit er uns zeigte, daß wir weder zu unserer eigenen Freude oder Verherrlichung noch zum mutmaßlichen Wohl oder Vergnügen anderer bewußt unrecht tun können, um zu beweisen, daß unsere Kenntnis des Gesetzes Gottes die Strafe mildert. Wir können das unerbittliche, unveränderliche Prinzip nicht von seinem heiligen, wohltätigen Wege abbringen; denn das Prinzip duldet Sünde in keiner Form und zu keinem Zweck. Wir können nicht mit dem Feuer spielen, d. h. uns bis an den Rand der Sünde und der Gefahr wagen, und mit Unehrlichkeit tändeln und hoffen, daß unsere Kenntnis des Guten uns schützen werde, wenn wir zu weit gehen. Die Wahrheit und die Liebe stehen uns bei jedem rechtmäßigen Bedarf zur Verfügung; aber wir dürfen auf Geheiß oder Beeinflussung des Irrtums nicht absichtlich von unserem höchsten Ideal hinabsteigen.
Wir lesen im Evangelium des Matthäus, daß das Böse, nachdem es alle Versuchung beendet hatte, eine Zeitlang von Jesus wich, und daß die Engel Gottes ihm dienten und alle seine Bedürfnisse befriedigten. So geht es uns allen auch. Nach dem Gewitter kommt die Stille und der Regenbogen. Sind die Einflüsterungen des Irrtums zum Schweigen gebracht, so empfangen wir weitere Versicherungen und Offenbarungen der Wahrheit und der Liebe, und wir können diese Engel beherbergen und ihre reinen Botschaften, für die wir vor dem Kampf vielleicht nicht bereit waren, verstehen. Dadurch, daß wir den Glauben an die Wirklichkeit des Bösen austreiben, machen wir den Engeln Raum.
Christus Jesus hielt bei allen Versuchungen an der Tatsache fest, daß sein wahres Selbst der Sohn Gottes, die vollkommene, heilige Idee des vollkommenen Gemüts und daher in jedem Sinne des Worts unvergänglich war. Das Böse konnte sein Denken mit diesen Versuchungen nicht verwirren, und durch seine Treue zu Anfang seines Beweises konnte er am Ende beweisen, daß es seinen Körper nicht zersetzen konnte. „Du wirst es nicht zugeben, daß dein Heiliger die Verwesung sehe”. Jesus sah Verderbtheit nie als Wirklichkeit. Nie machte er aus einer Sünde oder Krankheit eine Wirklichkeit.
Wir können im späteren Wirken Jesu die Nutzanwendung der Früchte dieser Beweise sehen. Er sagte seinen Jüngern, daß er eine Speise zu essen habe, von der sie nicht wüßten. Sie hatten die erhaltende Kraft der Ablehnung der Ansprüche der materiellen Sinne noch nicht erkannt. Er kannte sie und konnte die Tausende speisen, da er gelernt hatte, sich selber in der Wüste zu speisen. Als einer vor ihm niederfallen und ihn anbeten wollte, verhinderte er es und erhob des Menschen Denken zu Gott. Jesus lehnte die Huldigung des Menschen ab, weil er in seinem Denken schon die Huldigung der ganzen Welt abgelehnt hatte.
Bestürmen uns die Einflüsterungen des Versuchers, so haben wir die Waffe, die Jesus hatte. Laßt uns beten, wie er betete und wie er seine Jünger beten lehrte. Wir müssen die Wahrheit erklären und dürfen nicht auf die Versuchung eingehen. Gott führt uns nie in Versuchung sondern aus ihr heraus. Er „erlöst uns von Sünde, Krankheit und Tod”; „denn Gott ist unendlich, alle Kraft, alles Leben, alle Wahrheit, alle Liebe, über allem und Alles” (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, S. 17).