Vielleicht einer der ermutigendsten Heilungsberichte in der Bibel ist der im 9. Kapitel des Evangeliums des Matthäus, wo wir lesen, daß ein Weib, das viele Jahre gebrechlich gewesen war, den Saum des Kleides des galiläischen Heilers berührte und sofort gesund wurde.
Wir können uns vieler Heilungsfälle erinnern, wo scheinbare Hindernisse zu überwinden waren, wie z.B. die Heilung des Gichtbrüchigen, der unter Schwierigkeiten zu Jesus gebracht wurde, um von ihm den Segen der Heilung zu empfangen, oder häufig in abgelegene Orte verbannter Aussätziger und anderer, die wegen ihrer Gebrechen wahrscheinlich oft abgesondert waren. Doch in keinem einzigen Falle war ein Hindernis groß genug, den wachsamen und vertrauensvoll Bittenden von der Erfüllung seines Verlangens auszuschließen.
Aber in dieser Erzählung von einem armen Weibe, das seit zwölf Jahren an einem Gebrechen litt, finden wir etwas so Einfaches und Unmittelbares, daß wir leicht die in der Geschichte enthaltenen wichtigen Wahrheiten übersehen. Es sah alles so leicht aus. Sie bat den Meister nicht, daß er ein Wort spreche; kein Geständnis, keine Bitte kam aus ihrem Munde. Aber bei sich selbst, lesen wir, sprach sie: „Möchte ich nur sein Kleid anrühren, so würde ich gesund”.
Welch einfaches Anerkennen der Kraft der von dem Nazarener gelehrten und bewiesenen Wahrheit—und sofortige Befreiung! Es mag für den zufälligen Zuschauer in der Tat einfach ausgesehen haben; aber wer könnte sagen, welche Hindernisse der sogenannte fleischliche Sinn darbot, Hindernisse, die die Menge nicht kannte, die der Meistermetaphysiker Jesus aber zweifellos verstand? Wohl mochte Furcht vor einer drängenden oder feindseligen Menge sie bestürmt haben: Schüchternheit und Zurückhaltung sind Kennzeichen der Frau des Morgenlandes. Auch Ungläubigkeit mochte sehr leicht hinzugekommen sein, da materielle Heilverfahren ihr aller Wahrscheinlichkeit nach nicht geholfen hatten. Unter dem Druck ihrer Not wich jedoch Furcht der Liebe, Schüchternheit und Zurückhaltung dem Vertrauen und Ungläubigkeit dem Glauben. Ihren Glauben an zeitliche Hindernisse besiegend beanspruchte sie ihr Geburtsrecht als Gottes Kind und fand dadurch die Kraft des angewandten geistigen Gesetzes, ihre menschliche Not zu stillen.
In der ersten Begeisterung, als wir diese von Mrs. Eddy im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” und in ihren anderen Werken uns gegebene neu-alte Offenbarung der Wahrheit kennen lernten, haben sich wohl manche gesehnt, doch wenigstens den Saum des Kleides der Wahrheit zu berühren. Und haben die Hindernisse, mit denen das sterbliche Gemüt uns bestürmte, nicht alles aufgeboten, uns zurückzuhalten? Befand sich unter diesen Hindernissen nicht auch die Furcht, daß wir nicht gut genug seien, einer so reinen Lehre gerecht zu werden, ferner Ungläubigkeit, da langes Suchen nach dem rechten Gottesverständnis unsern Zweifel noch nicht beseitigt und die Frage sich vielleicht erhoben hatte, ob dies auch tatsächlich die Wahrheit sei, und schließlich Schüchternheit und Zurückhaltung, die wissen wollten, was alte Freunde und Verwandte dazu sagen werden, und was wir ihnen wohl erwidern können?
Letzten Endes ist es für manchen nicht so einfach gewesen, sich durch die sterblichen Suggestionen Vorurteil, Furcht und Zurückhaltung durchzuringen, die den, der geistig zu erwachen sucht, immer abhalten möchten. Aber in unserer größten Not haben wir durch Beiseiteschieben dieser lästigen Menge bewiesen, wie groß unser Verständnis ist, und die Heilung ist erfolgt. Was wurde aus den Hindernissen, die uns abhalten wollten? Sie sind verschwunden, wie der Irrtum vor der angewandten Wahrheit verschwindet und immer verschwinden wird. Auf Seite 353 in Wissenschaft und Gesundheit schreibt Mrs. Eddy: „Alle Dinge werden weiter verschwinden, bis die Vollkommenheit erscheint und die Wirklichkeit erreicht ist”.
Vielleicht können wir hier noch etwas lernen. Sind wir nicht manchmal zu sehr geneigt, bei unseren Beweisen zwischen wichtigen und weniger wichtigen zu unterscheiden? Eine ernste Schülerin der Christlichen Wissenschaft bewies zu Beginn ihrer Erfahrungen die Heilkraft der Wahrheit, wie sie in der Christlichen Wissenschaft verstanden wird, ganz klar. Dann wurde ihr eingeredet, daß ihr Beweis ein „kleiner” Beweis sei. Klein! Für jene Anfängerin war es eines der größten und freudigsten Erlebnisse ihres Lebens. Und was hat es sie vielleicht nicht alles gekostet—dieses Sichdrängen durch die Menge sterblicher Hindernisse und das Erlangen jener Klarheit des Denkens, das sie von einer falschen Annahme befreite?
Wir dürfen eingedenk sein, und dies sollte uns ermutigen, daß der Wert unserer Beweise nicht von der Größe der falschen Ansprüche abhängt, sondern von der Beschaffenheit und Klarheit des Denkens, wodurch diese Ansprüche überwunden werden. Und das scheinbar unbedeutende Berühren des bloßen Saumes der von Jesus, dem Wegweiser, gelebten Wahrheit erfordert dasselbe aufgeklärte Denken wie das einstige Vollbringen jener für den menschlichen Sinn scheinbar so großen Tat des Wandelns auf dem Meere.
