Dem äußeren Anscheine nach ist der sterbliche Mensch ein Bündel widersprechender Eigenschaften, die Welt ein Kampfplatz widerstreitender Kräfte und die menschliche Erfahrung eine Zusammensetzung von Gut und Böse. Weder die Welt noch die Menschheit noch das Dasein scheint jedoch gänzlich gut oder gänzlich schlecht sondern ein Gemisch von beiden zu sein. Dieses scheinbare Zusammentreffen von Gegensätzen oder Mißklängen hat die Denker aller Zeiten verwirrt. In der Annahme, daß das Böse etwas Wesenhaftes oder Tatsächliches sei, haben sie nacheinander versucht, es zu erklären, zu unterdrücken oder sogar zu bezwingen, d.h. seine Opfer zu befreien; aber sie sind bestenfalls nur teilweise erfolgreich gewesen.
Offenbar könnte ein Weltall, in dem das Gute und das Böse miteinander um die Oberherrschaft stritten, so wenig von Bestand sein wie ein Weltall des Zufalls unter dem Vorsitze eines höchsten Wesens, das gegen Seine Geschöpfe rachsüchtig oder gleichgültig wäre. Auch könnte das Leben nicht unendlich fortdauern, wenn es Krankheit ausgesetzt wäre. Im Lichte der Vernunft wird der Irrtum, „der Teufel”, sei es in der Form von Bösem oder von Krankheit, als „ein Lügner und der Vater der Lügen” (Moffatt), wie Christus Jesus ihn so treffend nannte, erkannt.
Seit der Zeit Christi Jesu ist Mary Baker Eddy die erste Lehrerin gewesen, die dem Bösen — der Sünde und der Krankheit — so unnachgiebig entgegentrat und es als mesmerisch oder mutmaßlich bloßstellte. Und sie blieb dabei nicht stehen. Indem sie sich weigerte, Sünde und Krankheit mit wahrem Sein zu verwechseln und ihnen auch nur scheinbar einen Platz im Weltall des Prinzips einzuräumen, brandmarkte sie sie als Übeltäter und stellte sie durch praktisches Anwenden der geistigen Tatsache, die ihre Ansprüche vernichtet, außerhalb des Gebiets normaler menschlicher Erfahrung. Dadurch hat sie den Irrtum in allen seinen Formen ausdrücklich abgesondert und widerlegt.
Mit Bezug auf diesen Punkt erklärt sie in der ihre Schriften kennzeichnenden tiefgründigen Weise auf Seite 300 in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift”: „Das Zeitliche und Unwirkliche berühren niemals das Ewige und Wirkliche. Das Wandelbare und Unvollkommene berühren niemals das Unwandelbare und Vollkommene. Das Unharmonische und Selbstzerstörende berühren niemals das Harmonische und durch sich selbst Bestehende. Diese entgegengesetzten Eigenschaften sind das Unkraut und der Weizen, die sich niemals wirklich vermischen, obgleich sie (für das sterbliche Auge) bis zur Ernte nebeneinander wachsen”.
Eine einfache Veranschaulichung der Tatsache, daß das Gute durch das Böse nie befleckt oder das Leben durch Krankheit nie angetastet wird, bietet ein Bach, dessen Wasser, so schmutzig und unrein es auch sein mag, vollständig klar und rein zum Vorschein kommt, nachdem es durch ein so einfaches Filter wie einige Fuß feinen Sandes gesickert ist. Die Unreinheiten waren in Wirklichkeit nie ein Teil des Wassers.
Ebenso verhält es sich mit dem Bösen, der Sünde und der Sterblichkeit. Sie mögen einem Menschen noch so innig oder unheilvoll anzuhaften oder in seinem Leben hervorzutreten scheinen, in Wirklichkeit ist der Versuch, sein wahres Selbst zu erreichen, vollständig mißlungen. Den Grund hiefür gibt uns die Stelle in Wissenschaft und Gesundheit (S. 14): „Gänzlich getrennt von der Annahme und dem Traum des materiellen Lebens ist das göttliche Leben, welches geistiges Verständnis und das Bewußtsein von des Menschen Herrschaft über die ganze Erde offenbart”.
Hierin liegt das Geheimnis wirksamer Ausmerzung aller Arten des Irrtums, Krankheit eingeschlossen. Ein körperlicher Sterblicher, der vermeintlich krank ist, ist der Ausdruck einer falschen Vorstellung vom Menschen. Denn der Mensch ist geistig, ohne eine Spur von Weltlichkeit oder Sterblichkeit. Wer nie vergißt, daß Gott der Geist ist, und seine Folgerung durch die Erkenntnis bekräftigt, daß wahres Bewußtsein sein wahres Selbst ist, kann zu keinem andern Schluß kommen. Wer erkennt, daß sein wirkliches Selbst geistig ist, stellt sich unter den Schatten des Allmächtigen, von wo aus er Krankheit als unwirklich bloßstellen und ihr die Macht, sich ihm oder irgend jemand zu nähern, absprechen kann.
Wer mit göttlicher Hilfe die Wirklichkeit jeder Krankheit entschlossen absondert oder leugnet, hat dadurch einen entscheidenden Anfang gemacht, sie zu untergraben und auszurotten. Er fragt nicht, wie das Leiden entstand oder warum es über ihn oder jemand anders kam, sondern bestreitet dessen Anspruch auf Anwesenheit und besteht verständnisvoll darauf, daß es weder ihn noch jemand anders antastet oder antasten kann. Ferner tritt er dem sterblichen Sinn entgegen, der ihm die Täuschung aufzudrängen sucht, und verneint sie mit der Wahrheit. Und die Wahrheit ist, daß es nur das eine Gemüt, das wir Gott nennen, und nur ein wirkliches Bewußtsein gibt, ein Bewußtsein, das nur Gutes äußert und von keinem Übel und keiner Not weiß. Daher ist das sterbliche Gemüt mit seinen Beweisgründen und Einflüsterungen von Leiden und Krankheit in seinen Vorwänden machtlos — ja, es besteht überhaupt nicht, hat also an dem Weltall des ewigen Lebens, in dem wir unser Dasein haben, keinen Anteil.
Es ist nicht schwer einzusehen und aufrichtig zu erklären, daß die Krankheit, die einen zu beunruhigen sucht, eine Annahme, eine Trugvorstellung oder ein Traum ist, weil das Leben, unser Leben, Gott ist und daher ewig harmonisch und für Krankheit unempfänglich ist. Aber gar leicht macht man seine unerschrockene und tapfere Erklärung in gewissem Maße dadurch wirkungslos, daß man die Annahme oder den Traum für seine eigene Annahme, seinen eigenen Traum hält, wo dies doch tatsächlich nicht der Fall ist. Der Traum und der Träumer sind eins, die Krankheit und der Kranke sind eins; aber dieses eine ist nicht der Mensch, ist nicht Wirklichkeit, sondern eine Unwahrheit. Zu der Krankheit in dieser tiefgründig wissenschaftlichen Weise sprechen, heißt die Herrschaft über sie erlangen.
Es ist wiederholt vorgekommen, daß ein vermutlich in der Gewalt eines Leidens befindlicher Mensch das Leiden als ganz von ihm getrennt betrachtet und seine Verheerungen nicht empfunden hat, während seine Freunde ihn tief bekümmert ansahen. Diese Erscheinung veranschaulicht nicht nur, daß Krankheit mesmerisch ist, sondern auch, daß Mesmerismus kein Teil des Menschen ist. Die Behandlung ist daher auf die Vernichtung der mesmerischen Annahme gerichtet.
Wie sehr der Mensch doch geneigt ist, von einer fraglichen Gewohnheit als seiner Gewohnheit, oder von einem Charakterfehler als seinem Charakterfehler zu sprechen, wenn doch die Befreiung darin liegt, daß man solche Veranlagungen in das Gebiet mesmerischer Annahme rückt und sie dadurch absondert und verwirft! Von Rechts wegen muß ein Mensch zum mindesten anerkennen, daß das göttliche Prinzip immer wirkt, seine Laufbahn harmonisch zu lenken und zu gestalten. Gibt er zu, daß er hartnäckige Neigungen habe, oder daß sie vorhanden seien und ihn beeinflussen, so leugnet er die Allmacht Gottes.
Hinsichtlich früherer Fehler ist ein Mensch gewöhnlich zu sehr geneigt, sich zu fragen, wie er dazu kam, sie zu machen und noch lange, nachdem er sie bereut und sich gebessert hat, unter den vermeintlichen Folgen zu leiden. Statt dessen sollte er zu allem Irrtum sagen: „Hebe dich, Satan, von mir!” und erkennen, daß sein wahres Selbst nie Torheiten nachhing, sie nie tatsächlich beging. Es ist schon an sich töricht, sich durch krankhafte Selbstverdammung das Leben zu verderben, wenn man doch allen Glauben an Irrtum wissenschaftlich aufgeben und seine Laufbahn in Zucht, aber unbeeinträchtigt fortsetzen kann. Paulus gab in dieser Hinsicht ein gutes Beispiel. Er hatte wahrlich wie kaum jemand anders eine Vergangenheit, die ausgelöscht zu werden brauchte. Aber in seinem Briefe an die Philipper schrieb er: „Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich zu dem, das da vorne ist, und jage — nach dem vorgesteckten Ziel — nach dem Kleinod, welches vorhält die himmlische Berufung Gottes in Christo Jesu”.
Einen Strauchelnden, Ohnmächtigen wieder auf die Beine bringen, die Schatten der Müdigkeit und Niedergeschlagenheit aus seinem Gesicht verschwinden und das Licht der Hoffnung und des Friedens darin leuchten sehen, ist, was der Apostel meinte, als er sagte: Erbauet einander; tröstet einander; einer trage des andern Last, so werdet ihr das Gesetz Christi erfüllen.—
