Dem Neuling in der Christlichen Wissenschaft wird oft der Rat erteilt, keinen Groll zu hegen, sondern freimütig zu vergeben. Diesen guten Rat sollte jedermann befolgen. Aber, mag man einwenden hören, wie kann ich denn keinen Groll hegen, wenn mir Unrecht geschehen ist, wenn ich schlecht behandelt oder falsch beurteilt worden bin? Hierauf ist zu erwidern, daß man sich aus einem solchen unglückseligen Gedankenzustande durch menschliche Anstrengung allein nicht herausarbeiten kann, daß es aber durch die immer zur Verfügung stehende göttliche Hilfe möglich ist.
Beim Ausarbeiten eines solchen Problems haben wir die wunderbare Botschaft unserer verehrten Führerin Mary Baker Eddy in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 72): „Da Gott, das Gute, immer gegenwärtig ist, so folgt daraus in der göttlichen Logik, daß das Böse, das mutmaßliche Gegenteil des Guten, niemals gegenwärtig ist”. Wir wissen, daß Groll, der eine Art Haß ist, böse ist, und daß Versöhnlichkeit, eine Eigenschaft der Liebe, gut ist; und wenn wir hierüber nachdenken, wird es uns klar, daß Groll kein wirkliches Dasein hat, sondern nur eine falsche Gedankenbeeinflussung ist, die das immer gegenwärtige Gute nie verdrängen kann. Wie wunderbar wird nun das Bestreben zu lieben, wenn wir über die Bibelstelle nachdenken: „Ihr Lieben, lasset uns untereinander liebhaben; denn die Liebe ist von Gott, und wer liebhat, der ist von Gott geboren und kennt Gott”!
In einem Aufsatze über „Liebe” schreibt unsere Führerin (Miscellaneous Writings, S. 249, 250): „Welch ein Wort! Ich stehe in Ehrfurcht davor. Über was für eine Welt aller Welten es sich erstreckt und allerhaben ist! Das unabgeleitete, das unvergleichliche, das unendliche All des Guten, der alleinige Gott ist die Liebe”. Was für erleuchtete und erleuchtende Worte! Wer möchte nicht solche Höhen zu erreichen streben?
Um von den aufdringlichen Erscheinungsformen des Hasses frei zu werden, damit widergespiegelte geistige Liebe Raum finden kann, ist häufige Selbstprüfung — inbrünstige, ehrliche Selbstprüfung — erforderlich. Zuweilen hält sich der Irrtum in fast unerkennbarer Verkleidung versteckt in unserem Denken auf und seine Anwesenheit kann, wenn wir sie billigen, jeweils unser aufrichtigstes Bemühen vereiteln.
In der Christlichen Wissenschaft werden wir gelehrt, die Wahrheit alles dem Guten Unähnliche aufdecken und vernichten zu lassen. Und ein sowohl von Hochmut als auch von Selbstverdammung freies demütiges Denken wird es nicht schwer finden, die Wahrheit die Arbeit tun zu lassen. Das innige Verlangen aller wahren Christen, in Gottes Weinberg zu arbeiten, läßt einem keinen Augenblick Zeit, auf frühere Kränkungen zurückzublicken oder sich dem Groll hinzugeben. Vielmehr ist der Christliche Wissenschafter von der ihn ganz in Anspruch nehmenden Arbeit beseelt, jeden Tag den Christusgeist immer mehr widerzuspiegeln.
Wie bedeutungslos und nicht der Mühe oder der Beachtung wert das Erlebnis ist, das Groll zu verursachen schien, wenn wir es uns wieder vor Augen führen, nachdem wir einen klareren Blick für die Wirklichkeit erlangt haben! Wer würde beim Betrachten einer herrlichen Landschaft beständig an einen dichten Nebel denken, der diesen Ausblick einmal vorübergehend trübte? Aber tut man nicht genau dasselbe, wenn man über scheinbares Unrecht von gestern nachdenkt, anstatt von den vielen Gelegenheiten Gebrauch zu machen, Gott heute zu verherrlichen?
In dem Maße, wie wir die Wahrheiten der Christlichen Wissenschaft annehmen und Gottes Allheit und die Vollkommenheit des geistigen Daseins zu erwägen beginnen, verschwinden Grollgedanken, und voller Freude erkennen wir, daß der Irrtum nie als Wirklichkeit bestand, und daß es daher nichts zu grollen — nichts zu vergeben — gibt. Bei unserem Bemühen in dieser freudigen Arbeit des Vergebens sollte uns beständig unseres Meisters vollkommenes Beispiel uneingeschränkten Vergebens vorschweben. Und wenn es auch viel Geduld, Demut, Selbstentäußerung erfordert, so steht doch der Preis, den man für die Glückseligkeit, vergeben zu können, bezahlt, in gar keinem Vergleich zu dem Lohn. Das vollständige Auslöschen alles Grolls bringt unaussprechliche Freude, eine von einem wunderbaren Gefühl der Freiheit und des Friedens begleitete Freude. Wer möchte nicht nach einem solchen Lohn trachten, durch dessen gesegnetes Erlangen sich das Denken in die Gegenwart des Höchsten erhebt?
Christus Jesus hinterließ uns die Ermahnung: „Und wenn ihr stehet und betet, so vergebet, wo ihr etwas wider jemand habt, auf daß auch euer Vater im Himmel euch vergebe eure Fehler”. Wie unser Herz von Dank überfließt für die Gebote unseres gesegneten Meisters, sowie für die im Leben unserer lieben Führerin veranschaulichte wunderbare Liebe und Versöhnlichkeit und für ihre Lehre, die uns befähigt, hinzugehen und desgleichen zu tun!
