Das hebräische Gesetz enthielt eine bestimmte Vorschrift für die Behandlung von Fremden oder Reisenden in palästinischen Städten. Diese Vorschrift hatte für die Israeliten eine besondere Bedeutung, weil sie einst Fremdlinge in Ägypten waren und dort Hilfe fanden. Das Gesetz machte einen Unterschied zwischen jenen nichtisraelitischen Fremden, die als Nachbarn im wahren Sinne friedlich im Lande wohnten, und solchen, die im Herzen Feinde waren. Mit dem Kommen des Christentums kamen Höflichkeit und Liebe gegen den Fremden einen Schritt vorwärts. Eine tiefere, metaphysischere Beziehung wurde erreicht, wie aus der Versicherung des Paulus an die Epheser, die nach der Meinung der Juden nicht zu den Hausgenossen der Gläubigen gehörten, hervorgeht: „So seid ihr nun nicht mehr Gäste und Fremdlinge, sondern Bürger mit den Heiligen und Gottes Hausgenossen”.
Die freundliche Aufnahme des Paulus unter die „Hausgenossen Gottes” hat für Christliche Wissenschafter eine tiefe Bedeutung; denn die Christliche Wissenschaft lehrt jene wahre Gastfreundschaft, die den persönlichen Bedürfnissen der Gäste, der Bekannten und der Fremden sowohl zu Hause als auch in der Kirche gerecht wird; jene Gastfreundschaft, die des Bruders und des Fremden größtes Bedürfnis sieht und ihm abhilft. Jeder christlich-wissenschaftliche Ausüber, jeder Pfleger, jedes Mitglied eines Zweigkirchenausschusses, sei es für Literaturverteilung, Zirkulation oder Insertion, jeder, der in der Sonntagsschule tätig ist, jeder Kirchenbeamte, ja, jedes Kirchenmitglied hat Gelegenheit, anderen die Früchte anzubieten, die nach Christi Jesu Aussage die praktischen Ergebnisse seiner geistigen Lehre sind.
Der Nachfolger Christi kann nicht umhin, gegen alles Gute gestfreundlich zu sein. Er kann nicht umhin, allen Irrtum als Nichts auszuschließen; denn er spiegelt alles, was von Gott kommt, wider und heißt es willkommen. Die Erkenntnis, daß ihm das Gute von Rechts wegen zukommt, lehrt ihn, seine Perlen nicht vor den Unwürdigen oder Zaudernden zu werfen. Selbstverständlich denkt er zuerst gastfreundlich und bringt dann Gastfreundschaft dadurch zum Ausdruck, daß er den Fremden schützt und liebevoll auf den Weg der Gerechtigkeit führt.
Solche Gastfreundschaft ist bei allen unseren menschlichen Erfahrungen anwendbar; wir wollen aber hier die vielen nützlichen Arten besprechen, wie wir den Fremden in unseren Gottesdiensten Freundlichkeit und Aufmerksamkeit erzeigen können. Wir können wohl nicht immer wissen, wer diejenigen sind, die die Kirche zum erstenmal besuchen, und die sich einsam fühlen, wenn sie nicht persönlich begrüßt werden. Aber diese Tatsache weist umsomehr auf die Notwendigkeit hin, daß ein solches Gefühl mentalen Willkomms herrsche, damit Leute, die noch nie in einer christlich-wissenschaftlichen Kirche waren, die beabsichtigte herzliche Begrüßung, Freundlichkeit und Erquickung fühlen.
Auswärtige Mitglieder, die Die Mutterkirche besuchen, sind in ihr zu Hause. Fremde und Gäste werden ohne Fragen oder Zögern bewillkommt und können sich wie die Mitglieder den Bräuchen und Gewohnheiten der Gottesdienste anpassen. Auch die Gäste geben und nehmen. Sie können sich ungezwungen unter die anderen mischen, wodurch schon frohe Bekanntschaften angeknüpft worden sind; denn eine freundliche Annäherung wird gerne im Geiste des im Briefe an die Hebräer erteilten Rates erwidert: „Bleibet fest in der brüderlichen Liebe. Gastfrei zu sein vergesset nicht; denn dadurch haben etliche ohne ihr Wissen Engel beherbergt”.
Aber die Kirchenmitglieder können noch auf andere Arten Fremde in unseren Kirchen „beherbergen” und vielleicht „Engel” finden. In manchen Kirchen setzen sich die Mitglieder, sei es aus Schüchternheit, falscher Bescheidenheit, Gewohnheit oder Vorliebe, in gewisse von ihnen bevorzugte Teile des Zuhörerraums, ohne auf später Kommende, namentlich Fremde, genügend Rücksicht zu nehmen. Zuweilen bleiben die vorderen Bänke unbesetzt, während die Mitglieder und oft die Fremden ganz hinten sitzen. Dies ist besonders für Ordner und Leser unangenehm. In einer Mittwochabendversammlung könnte man es dem Leser fast nicht übel nehmen, wenn er die hinten Sitzenden aufforderte, nach vorne zu kommen. Mitglieder die bei der Wahl ihrer Plätze auf andere Rücksicht nehmen, geben ein gutes Beispiel von Gastfreundschaft. Natürlich kommt dieses Problem in vielen stets gut besuchten Kirchen nicht in Betracht.
Für die Gottesdienste in Der Mutterkirche bietet Mrs. Eddy „Personen aller Sekten und Konfessionen, die kommen, um die Sonntagspredigt zu hören”, ihre Sitzplätze an und macht es Ortsmitgliedern zur Pflicht, „erforderlichenfalls Fremden ihre Sitzplätze zu überlassen” (Handbuch, Art. XVI, Abschn. 1, 2). Diese Satzungen wurden aufgestellt, als die Gottesdienste noch in der ursprünglichen Mutterkirche gehalten wurden, die Mitglieder ihre Bänke mieteten und die Sitzgelegenheit sehr beschränkt war. Aber auch im Erweiterungsbau, wo die Gottesdienste jetzt gehalten werden, und wo reichliche Sitzgelegenheit vorhanden ist und allen Besuchern Plätze frei zur Verfügung stehen, enthalten diese Satzungen eine Lehre herzlichen Willkomms.
Im allgemeinen beten Christliche Wissenschafter in den Gottesdiensten das Gebet des Herrn mit Überzeugung und von Herzen; dennoch können die Mitglieder dabei mehr an den Fremden denken, wenn sie in ihre Worte den Grund der Hoffnung legen, die in ihnen ist. Sicher entgeht einem ein Teil des Gottesdienstes, und man läßt es den Gästen an etwas fehlen, wenn man das Gebet des Herrn nur gewohnheitsmäßig oder fast unhörbar hersagt. Die Teile des Gottesdienstes, in denen die Besucher hörbar beitragen, können ebensogut ein gesprochener wie ein tiefempfundener Lobgesang sein.
Pünktliches Erscheinen in der Kirche, so daß man schon dort ist, wenn die Gäste kommen, ist ein Zeichen wahrer Gastfreundschaft. Den Gottesdiensten ruhig und aufmerksam beiwohnen, hilft einem selber und anderen. Wer in einer Mittwochabendversammlung mit genügender Überlegung und Klarheit spricht, erzeigt allen Anwesenden Nächstenliebe und kann gegen die Zuhörer außerdem noch dadurch rücksichtsvoll sein, daß er keine bedeutungslosen oder unverständlichen, sondern klare und verständliche Ausdrücke gebraucht.
Kirchenbesucher können sich dem Fremden ferner dadurch achtsam erzeigen, daß sie unnötige Geräusche, die oft Nachlässigkeit, üble Gewohnheit oder Mangel an Aufmerksamkeit verraten, vermeiden. Man fragt vielleicht, was für unnötige Geräusche gemeint seien; aber bei kurzem Nachdenken wird man feststellen, wie oft sie am Schlusse des Gebets, nach dem Sologesang oder nach anderen Teilen des Gottesdienstes stören. Besonders wenn die Gottesdienste durch Schallverstärker und Lautsprecher einer großen ungesehenen Rundfunkzuhörerschaft zugänglich sind, sollten alle, die das Bedürfnis kennen, mental und tatsächlich mithelfen, die Stille und die heilende Botschaft des Gottesdienstes zu bewahren.
In gewissem Sinne sind wir alle Fremdlinge, d. h. bis wir die Lehren des Meisters Christi Jesu verstehen; bis es uns zur inneren Gewohnheit geworden ist, die von ihm betätigte Liebe und seine guten Werke zu bekunden. Einem Zweig Der Mutterkirche schrieb Mrs. Eddy die bedeutungsvollen und weitreichenden Worte: „Vergesset das Selbst und arbeitet für die Menschheit; dann werdet ihr den müden Wanderer zu euch ziehen, den Pilger und Fremdling für eure Kirche gewinnen und Zugang zum Herzen der Menschen finden” (Miscellaneous Writings, S. 155). Dieser Satz enthüllt fünf wichtige Gedanken, die bis auf die Lehre, die Erfahrung und das Beispiel der ersten Christen zurückgehen; dennoch passen sie ganz für unsere Zeit und sind jetzt anwendbar. Wer möchte „den Pilger und Fremdling” nicht für seine Kirche gewinnen?
Die Christlichen Wissenschafter nehmen im Herzen weit mehr Rücksicht auf andere, als sie manchmal zeigen; aber die wahre Betätigung der Christlichen Wissenschaft beseitigt die Sinnesbegrenzungen und macht der Liebenswürdigkeit, die durch Achtlosigkeit, Vergeßlichkeit oder Befangenheit nicht voll zum Ausdruck kommt oder vollständig verhüllt ist, freie Bahn. Begrenzung des Guten hat im Gemüt oder im wirklichen Menschen, also auch in unseren Gedanken, keinen Raum. Der bereits erwähnte „Zugang zum Herzen der Menschheit” öffnet christlicher Gemeinschaft, liebevoller Zusammenarbeit und Hingebung weit die Tür, und das Ergebnis ist allgemeiner Segen.
