„Das Gleichnis vom ‚verlorenen Sohn‘”, schreibt Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, in „Rückblick und Einblick” (S. 91), „wird mit Recht ‚die Perle der Gleichnisse‘ genannt”. Die in dieser Geschichte dargelegten, im Leben des eigensinnigen, vergnügungssüchtigen Sohnes und des vergebenden Vaters geschilderten verschiedenen Gesichtspunkte bieten Bibellesern einen Reichtum an Bedeutung dar.
Man kann nicht umhin, die beachtenswerte Weisheit und Stärke des Vaters wahrzunehmen. Er gewährte dem jüngeren Sohn seine Bitte und gab ihm sein Teil der Güter; aber gleichzeitig gab er unparteiisch auch dem älteren Sohn sein Teil. Als der jüngere Sohn seines Vaters Haus verließ, um seinen Weltsinn zu befriedigen, verfolgte ihn des Vaters Denken nicht mit Wehklage oder Verdammung. Als aber Weltlust zu befriedigen versagt hatte und der gedemütigte, reuevolle Sohn sich aus selbstauferlegtem Mangel und Elend erhob und sich aufmachte und heimging, eilte ihm der Vater entgegen. Es heißt in der biblischen Geschichte: „Da er aber noch ferne von dannen war, sah ihn sein Vater, und es jammerte ihn, lief und fiel ihm um seinen Hals und küßte ihn”.
Sind wir in ähnlichen Fällen fähig, das reuige Denken wahrzunehmen, bereit, ihm entgegenzugehen, zu vergeben und zu vergessen, oder stehen wir in Erwartung eines Zeichens vollständiger und erprobter Wiedergeburt unentschlossen zögernd abseits, ehe wir in liebevoller Besorgtheit Herz und Hand öffnen?
Die Liebe Gottes ist immer bereit, das geringste Trachten nach dem Guten in unseren widerspenstigen Herzen zu belohnen. In Wirklichkeit gibt es trotz des gegenteiligen materiellen Augenscheins um uns her keinen verlorenen Sohn; denn der Mensch ist immer Gottes Sohn, ununterbrochen in der göttlichen Wohnstätte des Geistes weilend und an der Fülle jenes geistigen Heims teilnehmend, wo alle Kinder Gottes das himmlisch Gute empfangen.
Wie verhält es sich mit dem älteren Sohn in diesem interessanten Gleichnis? War seine Haltung gegen den jüngeren Bruder gerechtfertigt, der fortgezogen war und sein Gut im Unverstand mit Prassen umgebracht hatte und dennoch so bereitwillig vom Vater gnädig und liebevoll willkommen geheißen worden war? Wie oft finden wir in der menschlichen Erfahrung, daß das Gefühl der Selbstrechtfertigung mit Groll verwandt ist und manchmal einen Anstrich von Eifersucht hat! Und was ist die Ursache der Eifersucht anders als Furcht — Furcht, daß der Erfolg und der Fortschritt eines andern einen hindern können, von dem, was einem rechtmäßig gehört, Besitz zu ergreifen, oder vielleicht das Behalten des schon erlangten Guten anfechten können, mit andern Worten: Furcht, daß es nicht genug Gutes für alle gebe? Ein Reuiger, der das immergegenwärtige Gute erkennt, erfährt nur das Gute, das alle in Wirklichkeit besitzen. Es gibt im Herzen unseres himmlischen Vater-Mutter Gottes keine Parteilichkeit. Alles Gute des unendlichen göttlichen Gemüts ist immer gegenwärtig und steht allen ohne Ausnahme zu Gebote.
Das göttliche Bewußtsein ist das einzige wirkliche Bewußtsein. Da Gott der Schöpfer von allem ist, und da Er nur das Gute schafft, können wir uns in Wirklichkeit nur des Guten bewußt sein; denn es gibt nichts anderes, dessen man sich bewußt sein könnte. Wenn wir statt der Unwirklichkeiten des falschen Bewußtseins standhaft nur die Wirklichkeiten des wahren Seins annehmen, betreten wir das Haus Gottes, kehren wir in unseres Vaters Haus zurück, wo wir als Kinder Gottes immer gewesen sind. Nur der sterbliche Sinn schien mentale Verirrung, das Trachten nach Glück und Fortschritt auf falschen, von des Vaters vollkommenem Plan abweichenden Wegen zu sehen.
So scheint es, daß sich uns von überall her der Augenschein der Betrübnis und der Trostlosigkeit darbietet, nur weil wir offenbar von der Wahrheit und der Liebe abgewichen sind. In dem „fernen Lande” des fleischlichen Sinnes, fern von des Vaters Hause, herrscht kein Friede, sondern das beständige Streiten der materiellen Sinne. Der Mesmerismus des Bösen ist dem falschen Augenschein der körperlichen Sinne zuzuschreiben, die uns mit Versprechungen ergötzlicher Vergnügungen auf ihre breiten Straßen und Seitenwege zu locken Pflegen. Der körperliche Sinn Pflegt uns von der Frucht des Baums der Erkenntnis des Guten und Bösen essen zu lassen. Er Pflegt für Frieden und Genuß in der Materie, für Sicherheit und Heilung in materiellen Mitteln, für Reichtum als Ergebnis des Zufalls und des Glücks und für Beliebtheit als Mittel der Befriedigung und des Fortschritts einzutreten. Der Weg des materiellen Glaubens — des körperlichen Sinnes — kann eben und angenehm zu sein scheinen. Aber er führt zu „einem fernen Land”, wo keine Gunst oder Gnade zu finden ist, einem Land der Hungersnot und der Armut, der Erniedrigung und der Trostlosigkeit. Wenn man zu der Nutzlosigkeit und zum Verhängnis eines solchen Bewußtseinszustandes erwacht, macht man sich auf und zieht heimwärts, himmelwärts. Und „die Freudigkeit, die falschen Marksteine zu verlassen, und die Freude, sie verschwinden zu sehen — eine solche Gesinnung beschleunigt die endgültige Harmonie” (Wissenschaft und Gesundheit, S. 324).
Für jeden verlorenen Sohn kommt die Zeit, wo sich das Denken unwillkürlich aufmachen und in das Heim der immergegenwärtigen Liebe zurückkehren muß. Wie oft ist man geneigt gewesen, sich aus dem kalten Schatten in eine Ecke des Gartens zu begeben, wohin die Sonnenstrahlen ihre Glut werfen! Wir sind aufgestanden und haben diesen besseren Platz eingenommen, um die Wärme zu genießen. Der Sonnenschein der Wahrheit und der Liebe ergießt sich überallhin. Das Glühen dieses heilenden, ermutigenden Einflusses kommt allen zugute, die sich seinen wohltuenden Strahlen nähern, die sich gern in den milden Strahlenglanz der liebevollen Fürsorge Gottes stellen. Die Liebe Gottes ist immer bereit und willig, jeden ehrlichen Wunsch zu gewähren. Überdies ist die göttliche Liebe gegenwärtig, uns als Lohn für jeden Schritt vorwärts entgegenzukommen. Laßt uns nie das Gefühl haben, daß wir einen langen, mühsamen Weg gehen müssen, ehe wir ein Zeichen Seiner Liebe und Fülle erwarten können! Jeder gute Gedanke, jedes gute Wort und jede gute Tat, jeder kleinste Schritt in Reue und Besserung führt himmelwärts.
Die Sterblichen sind geneigt, mit eitlem Bereuen zurückzublicken, sich betrübt in Erinnerungen zu ergehen, sich mit alten falschen Schritten und unüberlegten Handlungen, versäumten Gelegenheiten und vielleicht übereilten Worten aufzuhalten. In dieser Weise nutzlos zurückblicken, heißt das stetige Vorwärtsschreiten hemmen und so den Fortschritt verzögern. Persönliches Verdammen ist ein Dieb und ein Räuber. Das Kind, das gehen lernt, mag oft stolpern und fallen. Liebende Hände helfen ihm auf die Beine, und es wird ermutigt, unverdrossen weiterzumachen. Es wird nicht verurteilt, weil es stolpert, sondern eifrige Anstrengungen werden fröhlich erneuert, bis es schließlich sicher stehen und gehen kann. Auch wir mögen bei unseren Bemühungen, das Ziel geistiger Vergegenwärtigung zu erreichen, zu fallen scheinen; aber wir können versichert sein, daß die Liebe immer gegenwärtig ist, uns aufzurichten, unsere schwachen Anstrengungen zu ermutigen und uns zum schließlichen Sieg zu tragen. O, wie unendlich, wie zärtlich das Erbarmen unseres Vater-Mutter, der Liebe, ist! Die Tür Seines Hauses ist immer offen, das Gute, das Er gibt, immer unser eigen.
Durch die Christliche Wissenschaft findet der verlorene Sohn von heute seinen Weg in des Vaters Haus zurück. In dem Verhältnis, wie man den Augenschein der körperlichen Sinne widerlegen lernt, sich weigert, im Denken dort zu weilen, wo sie einen hinzuführen pflegen, und standhaft im geistigen Reich des Wirklichen bleibt, findet man den wahren Sinn der Gesundheit, des Glücks und der Fülle.
Mary Baker Eddy, unsere geliebte Führerin, hat den Weg klar gemacht. Ihr Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” hat die Bibel wahrhaft so ausgelegt, „daß mühelos lesen kann, wer vorüberläuft”. Durch diese geistige Auslegung erhebt man sich im Denken, sein göttliches Geburtsrecht als das Bild und Gleichnis Gottes zu beanspruchen. Man sieht sein wahres Selbst als die Widerspiegelung des vollkommenen Vater-Mutter Gottes. Gottes Widerspiegelung bewegt sich nur so, wie Gott sich bewegt, besitzt nur, was Er ausdrückt. Der Mensch besteht mit Gott als Seiner Widerspiegelung zusammen.
Wenn es uns je scheint, daß wir nicht recht verstanden werden, oder daß wir von denen, mit denen wir verkehren, nicht gebührend anerkannt werden, dann laßt uns daran denken, daß in der Wahrheit Gottes Ideen verständlich und erkennbar sind, und daß diese Tatsache durch Sein Gesetz der Gerechtigkeit und Billigkeit offenbar wird. Jeder Lichtblick des Guten, der in dem ehrlichen Bemühen, „die falschen Marksteine zu verlassen” und durch beständiges Aufgeben materieller Annahmen in das Licht geistiger Tatsachen vorwärtszudringen, nutzbar gemacht wird, wird von unserem Vater gesegnet. Für die Anerkennung und den Ruhm des Vaters sollte man demütig arbeiten und alles Ihm überlassen, da er immer unfehlbar ans Licht bringt, was an heilender Kraft gebraucht wird.
So weitergehend, mit unserem Denken tief in der Wahrheit gewurzelt und festgegründet, im göttlichen Prinzip gefestigt, in den Banden der Liebe gehalten, finden wir, daß wir die Zeichen vergeblichen Ringens, fruchtlosen Strebens, des Stellung- und Machtstolzes, der Trägheit und der Freude an weltlichen Vergnügungen hinter uns gelassen haben, verschlungen in die himmlische Vision, wo der Geist allerhaben herrscht und die Materie als nichts erfunden wird. Dort, in das Gewand der Gerechtigkeit gekleidet, empfangen wir Gottes reiche Verleihungen, nehmen wir an dem alles versorgenden, alles erhaltenden, alles beglükkenden Guten teil und hören den frohen Willkomm: „Dieser mein Sohn war tot und ist wieder lebendig geworden; er war verloren und ist gefunden worden”.
Die göttliche Wissenschaft hat die Tatsachen des Seins enthüllt, sie bringt unsere wahre Gottessohnschaft, die ungefallen, vollkommen und ewig ist, ans Licht.