Zweifellos fühlt heute jeder Christ auf Erden das tiefe Sehnen oder Verlangen in sich, die „uralte Geschichte von Jesus und seiner Liebe” zu erzählen; um dies aber verständnisvoll zu tun, muß man die christliche Art des Liebens, die Jesus so vollkommen veranschaulichte, völliger kennen und verstehen. Die Christliche Wissenschaft enthüllt empfänglichen Herzen ein höheres Verständnis der Liebe; denn sie erklärt ihren Anhängern die alles umfassende, befreiende Liebe Gottes und zeigt, daß Christus der vollkommene Ausdruck oder die Widerspiegelung der göttlichen Liebe ist. Ferner ermutigt sie ihre Anhänger, in ihrem Denken vor allen Dingen den Geist der Christlichen Wissenschaft hochzuhalten, indem sie täglich danach trachten, dem göttlichen Vorbild des Christus in ihrem eigenen Leben nachzueifern.
Was sind die göttlichen Forderungen christlichen Liebens? Paulus schreibt in seinem Briefe an die Epheser: „Daß ihr durch die Liebe eingewurzelt und gegründet werdet, auf daß ihr begreifen möget mit allen Heiligen, welches da sei die Breite und die Länge und die Tiefe und die Höhe; auch erkennen die Liebe Christi, die doch alle Erkenntnis übertrifft, auf daß ihr erfüllt werdet mit allerlei Gottesfülle”. Diese Perle der Bibel zeigt genau die Dimensionen des Geistes. Und wir finden, daß Christus Jesus diese Dimensionen in seinem Leben berücksichtigte und das wahre Bewußtsein erlangte.
Im 13. Kapitel seines 1. Briefs an die Korinther schildert uns Paulus die Liebe des Meisterchristen. Dieses Kapitel ist eine der größten Quellen der Erleuchtung für alle Christen; denn jeder kann danach bemessen, inwieweit er die wahre Idee der Liebe erreicht hat.
Da von uns, die wir die Christliche Wissenschaft kennen, gefordert wird, auf christliche Art zu lieben, müssen wir die unendlichen Dimensionen der Liebe völliger erfassen; wir müssen uns über den endlichen Sinn der Zuneigung erheben und die wahre Art der alles umfassenden, alles in sich schließenden unendlichen Liebe auszudrücken beginnen.
Jesus kannte keine Klassenschranken. Seine Liebe war nicht begrenzt, und sie beschränkte sich nicht auf seine Familienangehörigen oder seine Freunde, sondern war allumfassend, sie erstreckte sich auf Reiche und Arme, auf Juden, Andersgläubige und Heiden. Wie gütig und erbarmungsvoll der Meister gegen die Armen und Niedrigen war! Seine Liebe erstreckte sich unwillkürlich und unvermeidlich auf alle gleichermaßen. Die Widerspiegelung der göttlichen Liebe ist unwiderstehlich.
Wir erinnern uns gern der bedeutsamen Anerkennung, die ein im Schnee stehender, armselig gekleideter Zeitungsjunge Henry Ward Beecher zollte. „Friert es dich nicht, mein Junge?” fragte Beecher. „Es hat mich gefroren, bis ich Sie sah”. In diesem anspornenden Beispiel einer durch wahren Edelmut gekennzeichneten Liebe sehen wir jenes völlige Fehlen von Herablassung, das ein Zeichen der instinktiven Höflichkeit einer edlen und liebevollen Art ist.
Jesus veranschaulichte durch die Geschichte vom barmherzigen Samariter, wie weit wir in diesem christlichen Lieben gehen sollten. Seine Liebe war so selbstlos, daß sie bis zum äußersten ging, Freundlichkeit auszudrücken. Jesus lehrte auch, daß das Vergeben keine Grenze haben sollte; daß man „siebzigmal siebenmal” vergeben sollte. Ein solch unvergleichliches Verständnis, wie er es bekundete, befähigte ihn nicht nur, seine Feinde zu lieben, sondern auch zu bitten, daß ihnen vergeben werde. Drücken wir immer die Barmherzigkeit aus, die uns befähigen würde, die zweite Meile mitzugehen? Jesus vergab schnell, weil er fähig war, den Irrtum von der Person zu trennen. Ist dieses Vergeben nicht der Gipfel der Liebe?
Bei dem Gedanken an tiefe christliche Liebe wendet sich unser Herz ganz natürlich unserer Führerin zu, die liebte, wie Jesus seine Nachfolger lieben lehrte, und es läßt sich sicher kein herrlicheres Beispiel der Liebe finden als in ihrem Leben. Das Geheimnis des Dienstes, den sie der Menschheit erwies, lag in ihrem Widerspiegeln der göttlichen Liebe; denn Liebe und Dienst sind immer miteinander verknüpft. Die Entbehrungen und Opfer, die sie brachte, um der Welt diese herrliche Wahrheit zu geben, zeugten wirklich von der Tiefe ihrer Liebe. Und wenn wir von der Wahrheit, die sie uns durch ihre Schriften enthüllte, Gebrauch machen, werden wir tiefer und aufrichtiger lieben und uns über einen persönlichen, anmaßenden und bindenden Sinn der Liebe zu erheben bemühen.
Wie verhält es sich nun mit der letzten Dimension, der Höhe christusgleicher Liebe? Wir wissen, daß wir Gott nur in den Höhen der Inspiration finden, und unsere liebe Führerin wurde durch ihre Liebe zu Gott und der Menschheit auf eine solche göttliche Höhe gehoben, daß sie ihre Kirche auf der geistigen Grundlage der Liebe aufbauen konnte. Aus einem von Liebe überfließenden Herzen schrieb sie (The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany, S. 258): „Nichts verdient Religion genannt zu werden als die eine demütige Opfergabe — Liebe”.
Christus Jesus suchte immer Höhen des Denkens, und er erreichte den heiligen Bewußtseinszustand, wo Gott durch die umgestaltende Macht der Liebe offenbar wird. In jener erhebenden Erfahrung, der Verklärung, muß er das ganze und vollständige Bild des unzerstörbaren und ewigen Lebens gesehen haben. In dem Maße, wie auch wir uns dadurch über das Selbst erheben, daß wir das Denken zu der Wahrheit emporheben, werden wir erkennen, daß nur die Liebe verklärt und das wahre Selbst, das Gott gleich ist, zum Vorschein bringt. Unser Aufstieg muß mit dem festen Entschluß beginnen, dem Vorbild Christi Jesu gemäß zu leben; denn er liebte, wie niemand auf Erden je geliebt hat. Er hatte das unbedingte Vertrauen, daß die Liebe die Grundlage aller Dinge ist, und daß die Liebe immer siegreich ist.
Werden wir uns bei der Betrachtung der Großmut dieser Christusliebe nicht der Notwendigkeit bewußt, alles Denken, Reden und Handeln nach unendlichen Dimensionen zu bemessen? Wir sollen über die allmächtige Liebe nicht bloß reden, sondern müssen sie widerspiegeln, wenn wir unsern Teil beitragen wollen, eine hungernde Welt zu speisen. Mrs. Eddy erkannte die Notwendigkeit, die Liebe tätiger auszudrücken, als sie schrieb (Miscellany, S. 131, 132): „In dieser Stunde ist dieser große, große Segen bei uns, und ich möchte mit dem Bewußtsein des Gemüts sagen, daß die Erfüllung der göttlichen Liebe in unserem Leben die Forderung — die besondere Forderung — dieser Stunde ist”. Die Erfüllung der göttlichen Liebe — die besondere Forderung dieser Stunde! Fordert dies nicht von uns allen, daß wir die Macht der Liebe in unserem Leben völliger veranschaulichen? Ihre Worte hätten können ebensogut erst gestern geschrieben worden sein; denn sie sind zeitlos, von unbegrenzter Reichweite, und passen auf alle Zeiten.
Die Christlichen Wissenschafter finden ihre Verbundenheit in der Teilnahme an einer gemeinsamen Hingebung an Gott, an Christus Jesus und an ihre Führerin Mrs. Eddy. Heute besteht in der Welt ein größeres Bedürfnis nach Liebe als je. Können wir nicht danach trachten, dieser „besonderen Forderung” der Stunde gerecht zu werden? Die Erfüllung von Mrs. Eddys Forderung ist den einzelnen Christlichen Wissenschaftern überlassen. Wenn jeder ein wenig ernstlicher versucht, jede Spur von Haß aus seinem Denken auszurotten, und sich bemüht, sein Bewußtsein mit der göttlichen Liebe zu erfüllen, beschleunigt er den Tag, wo alle Menschen Gott kennen und verstehen werden.
Laßt uns unser gegebenes Versprechen der Hingebung jetzt auf dem Altar des Weltfriedens und des Wohlwollens erneuern; denn wir wissen, daß ein dauernder Friede nur auf die eine Art zu erlangen ist, daß jeder der göttlichen Liebe in seinem Herzen alle Macht einräumt, bis alle Menschen durch ein Band miteinander verbunden sind, und dieselbe Sprache — die allumfassende Sprache der Liebe — sprechen! Möchten wir doch jetzt beginnen, dieser „besonderen Forderung” der Stunde nachzukommen!