Wissenschaftliche Demut kann mit der Haltung eines Mathematikers dem Prinzip der Zahlen gegenüber verglichen werden. Er weiß, daß kein Durchsetzen menschlichen Willens, keine persönliche Ansicht und kein persönlicher Wunsch ein Tüttelchen dieses Prinzips ändert oder das Wirken seiner Regeln im allergeringsten abwendet; daher kann er die Lösung eines Problems nicht nach seinem eigenen, persönlichen Geheiß bestimmen. Er weiß auch, daß die genaue Befolgung jener unwandelbaren Regeln ihn befähigt, die unvermeidlich vollkommene Lösung jedes Problems, das er zu lösen sucht, zu finden. Dieselbe Haltung muß der Christliche Wissenschafter dem göttlichen Prinzip gegenüber einnehmen, worüber die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, Mary Baker Eddy, in „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 112) geschrieben hat: „In der Christlichen Wissenschaft kommt das eine Prinzip und seine unendliche Idee von dem unendlichen Einen her, und mit dieser Unendlichkeit kommen geistige Regeln, Gesetze, und ihre Beweisung, die, wie der große Gesetzgeber, ‚gestern und heute und ... auch in Ewigkeit‘ dieselben sind”.
Den Höhepunkt wissenschaftlicher Demut drücken die Worte Jesu, des Christus, aus: „Ich kann nichts von mir selber tun”, und: „Der Vater, der in mir wohnt, der tut die Werke”— Worte von erhabenem Interesse und Wert! Daß er der Vater, nicht mein Vater sagte, zeigt die allumfassende Art des göttlichen Prinzips, der Liebe, deren unparteiische Regierung alles Daseins. „Der Vater, der in mir wohnt”. Dies zeigt, wie vollständig das Bewußtsein Jesu die Widerspiegelung des Prinzips war; wie vollständig er jeden Glauben an ein von der Liebe getrenntes Selbst ausgemerzt hatte. Dadurch konnte er auch sagen: „Was dieser [der Vater] tut, das tut gleicherweise auch der Sohn”. Dies ist vollkommene Widerspiegelung. Das Verständnis des göttlichen Prinzips beweist dieses Prinzip.
Was für einen erstaunlichen und unausrottbaren Beweis seiner wissenschaftlichen Demut, seines Verständnisses des Vaters und der Art des Vaters als der göttlichen Liebe Jesus gab! Vor seiner reinen Widerspiegelung des Geistes und dessen wohltätiger Macht verschwanden die Zerrbilder des Sinnenzeugnisses — jeder materielle Machtanspruch, jedes sogenannte Gesetz der Materie wurde vernichtet. Als die Pharisäer und Sadduzäer seine Machtbefugnis in Frage stellten oder ihn zu Antworten zu verführen suchten, wodurch sie ihn nach ihrem Gesetz hätten beschuldigen können, gab sein Widerspiegeln der Allwissenheit Antworten, die ihre Einwendungen vernichteten und ihre Zungen zum Schweigen brachten. Sein Bewußtsein, daß sein eigenes geistiges Sein die reine Widerspiegelung der Liebe war, befähigte ihn, unversehrt mitten durch seine Feinde hindurchzugehen, als sie ihn, weil sie ihn wegen seiner Reinheit haßten, auf einen Bergvorsprung geführt hatten, „daß sie ihn hinabstürzten”. Er gab unzählige Beweise der wissenschaftlichen Demut, die kein von Gott getrenntes Selbst, keine von dem Prinzip getrennte Macht kannte.
Demut ist nicht mit Schüchternheit verwandt. Jesus war der demütigste, aber wenigst schüchterne aller Menschen. Furchtlos, frei von jedem Sinn persönlicher Verantwortung, aber sich lebhaft bewußt, daß der Vater, das Gemüt, in ihm wohnte, meisterte er alle Anforderungen an sein Verständnis. Das Vorhandensein von Schüchternheit im Denken bedeutet, daß man glaubt, man könne etwas aus sich selber tun und versagen. Wissenschaftliche Demut kennt weder Furcht noch Minderwertigkeit, weder Unfähigkeit noch Unterwürfigkeit. Umgekehrt ist wissenschaftliche Demut nie anmaßend, sie macht sich nie als ein persönlicher Besitz geltend. Sie hält gelassen still, da sie weiß, daß die Wahrheit sich durch ihre eigene wirksame Kraft selber erhält, selber geltend macht und selber beweist.
Wenn die selbstlose Liebe unbestritten im Bewußtsein herrscht, kommen ihre allen unparteiisch verliehenen strahlenden Segnungen zum Vorschein. Demut ist jener Gedankenzustand, der den Eigenwillen abgesetzt und Gottes Willen erhöht hat, der hilft, jeden Gedanken dem Christus, der Wahrheit, unterzuordnen, d. h. in Übereinstimmung mit dem Prinzip, dem vollkommenen Gott und dem vollkommenen Menschen zu bringen. Sie ist das vollständige Aufgeben jedes Glaubens an ein von Gott, dem ganz guten, intelligenten, weisen und liebenden göttlichen Gemüt, getrenntes Selbst. Sie ist ein nachdrückliches, praktisches und mutiges Beanspruchen des Einsseins mit diesem Gemüt oder Prinzip, nicht in Dünkel oder mit dem geringsten Anstrich von Prahlerei, sondern in gelassener Sicherheit, in freundlichem Dienst und selbstloser Freude an allem Guten. Wahre Demut schreckt nicht davor zurück, des Menschen Geburtsrecht als einen Ausdruck Gottes zu beanspruchen, damit die die Herrschaft Gottes widerspiegelnde Tätigkeit und Macht des Gemüts den Menschen offenbar werde. Demut bewahrt vor Demütigung.
Wissenschaftliche Demut ist nie stolz auf Vollbrachtes. Sie behält selbst im größten Siege, in der erhabensten Überwindung, ihre Reinheit bei. Man betrachte die Haltung Jesu nach seiner Auferstehung. Obwohl er die Größe seines Beweises über den Tod und das Grab für sich selber sprechen ließ, indem er zu seinen Jüngern sagte: „Sehet meine Hände und meine Füße: ich bin’s selber. Fühlet mich an und sehet; denn ein Geist hat nicht Fleisch und Bein, wie ihr sehet, daß ich habe”, sprach er von seinem großen Sieg mit keiner Spur von Ruhmredigkeit und keinem Sinn persönlichen Vollbringens. Er kannte die vollständige Unwirklichkeit, das Sagenhafte des materiellen Daseins, und die mächtige, ununterbrochene Tatsächlichkeit des geistigen Seins und der geistigen Wesensübereinstimmung. In ihrer Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1902 (S. 18, 19) schreibt Mrs. Eddy: „Jesu Art ließ ihn die Ungerechtigkeit, die Undankbarkeit, den Verrat und die Grausamkeit, die ihm zuteil wurden, scharf empfinden. Doch beachte man seine Liebe! Sobald er die Fesseln des Grabes gesprengt hatte, beeilte er sich, seine treulosen Nachfolger zu trösten und ihre Befürchtungen zu entwaffnen”. So haben wir bei jenem Zusammensein mit seinen Jüngern am Ufer des Galiläischen Meeres, als ihm die Herrlichkeit seiner Himmelfahrt bevorstand, nur seine selbstlose, liebevolle Besorgnis für seine Jünger und seine erbarmungsvolle Fürsorge für die Menschheit, als er Petrus liebreich gebot: „Weide meine Schafe!”
Es war diese wissenschaftliche Demut, die die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft befähigte, der Feindschaft des fleischlichen Sinnes mit einer Widerspiegelung der Liebe, der Weisheit und der Macht entgegenzutreten, die, abgesehen von ihrem großen Meister Christus Jesus, beispiellos war. Hätte etwas anderes als ein selbstverleugnetes Einssein mit dem göttlichen Prinzip diese alleinstehende, sanfte, liebevolle Frau befähigen können, dem sinnlichen und verstandesmäßigen Haß des Materialismus, den feststehenden Ansprüchen der Theologie, der Arzneimittellehre und der Wissenschaft allein standzuhalten, und deren in Ehren gehaltenen Lehren und Anschauungen gerade entgegengesetzt zu predigen, zu lehren und sich zu betätigen? Ihre Werke beweisen, daß sie von der Wahrheit erhalten, von der unendlichen göttlichen Weisheit geführt, von der Liebe beschützt und von dem Leben gestützt wurde. Heute leuchtet ihre Entdeckung als ein Licht in der Welt, das das Denken der Menschheit aus der Finsternis des Materialismus herausführt, obgleich die Finsternis es nicht begreifen mag. Dieses Licht kann nur hell leuchtend erhalten werden durch Befolgung ihrer klaren Anweisung auf Seite 356 in „Miscellaneous Writings”: „Haltet Demut in Ehren, ‚wachet‘ und ‚betet ohne Unterlaß‘, sonst verfehlet ihr den Weg der Wahrheit und der Liebe”.