Das 12. Kapitel des Briefs an die Hebräer ist eine vortreffliche kurze Zusammenfassung christlicher Sitten, christlichen Verhaltens und Vorgehens. Die in diesem großen Briefe enthaltene gütige, weise Ermahnung kann zweifellos nur aus einem tief vergeistigten Bewußtsein hervorgegangen sein.
Der Verfasser ermahnt seine Mitchristen zuerst, sich in ihrem Denken beständig Christus Jesus zum Vorbild zu nehmen, „welcher, da er wohl hätte mögen Freude haben, erduldete das Kreuz und achtete der Schande nicht und hat sich gesetzt zur Rechten auf den Stuhl Gottes” (Hebr. 12, 2). Wenn der große Meister die mit jedem Überwinden des Irrtums verbundene geistige Freude nie aus den Augen ließ, sollten seine Nachfolger sicher nicht mutlos werden oder murren, wenn sie ihren Pfad sehr rauh finden. Sie werden aufgefordert, in dem ihnen verordneten Kampf „die Sünde, so uns immer anklebt und träge macht, abzulegen”. Weymouth übersetzt diese Stelle in seiner Wiedergabe des Neuen Testaments in neuzeitlicher Ausdrucksweise: „Laßt uns jedes Hindernis und die Sünde, die unsere Füße so leicht verstrickt, abschütteln”!
Ein junger Mann, der nie geraucht hatte und nächstdem volljährig wurde, fragte seinen Vater, ob er stichhaltige Gründe anführen könne, warum er sich in den kommenden Jahren weiterhin des Rauchens enthalten sollte. Der Vater entgegnete ihm klug mit den Fragen: Würdest du, wenn du im Begriff stündest, dich an einem Wettlauf zu beteiligen, es für vernünftig halten, deine Taschen mit Steinen zu füllen und dir dadurch unnötiges und nutzloses Gewicht aufzuladen? Bestünde das weise Vorgehen nicht darin, dich überflüssiger Last zu entledigen? Der Sohn sah die Weisheit dieser Beweisführung und schätzte mehr als je zuvor, daß er während seiner ganzen Jugendzeit von der Knechtschaft des Rauchens frei gewesen war, und er beschloß auf der Stelle, sich nicht dazu verführen zu lassen, sich wertlose irdische Lasten aufzuladen.
Und wie steht es mit den Sünden, die uns so leicht ankleben, und die unsere Füße verstricken? Sogar der Verfasser des Hebräerbriefs versucht nicht, diese Hindernisse aufzuführen. Sie sind bei verschiedenen Denkarten verschieden. Bei manchen sind es die Hindernisse unschönen gewohnheitsmäßigen Tadelns; bei anderen ein krankhafter Ausblick auf das Leben; bei anderen die beschwerliche Last Aufgeregtheit. Wieder andere laden sich freiwillig die Erdenlast auf, gewohnheitsmäßig gern über Krankheit und Widerwärtigkeit zu reden, und schleppen sie mit wie einen „Stein”, der nicht nur den, der spricht, sondern auch den, der zuhört, beschwert. Aber dem Christen wird, was auch die Gewohnheitssünde sei, eingeschärft, sich dadurch auf den Wettlauf vorzubereiten, daß er sein menschliches Selbst von dem Geist des Evangeliums durchdrungen sein läßt. In „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” (S. 254) schreibt die geliebte Verfasserin dieses Buchs, Mary Baker Eddy: „Gott fordert von uns, daß wir heute diese Aufgabe mit Liebe auf uns nehmen, das Materielle so schnell wie tunlich aufgeben und das Geistige ausarbeiten, das für das Äußere und Tatsächliche bestimmend ist”.
Im weiteren Verlauf des 12. Kapitels des Briefs an die Hebräer erinnert der Verfasser die Christen an die freudige Aufgabe, des Bruders Hände aufzurichten und die müden Kniee zu stärken; und der erste Schritt in dieser heiligen Arbeit besteht darin, zu unserem Vorbild christlichen Lebens aufzublicken, „daß nicht jemand strauchle wie ein Lahmer” (Hebr. 12, 13), sondern, wie er schnell hinzufügt, „vielmehr gesund werde”. Werden wir hier nicht füglich davor gewarnt, dem Irrtum nachzugeben oder ihm willfährig zu sein? Sollte ein Christlicher Wissenschafter sich damit begnügen, durch sein Gebet und seine Arbeit nur Besserung eines kranken Körpers zu sehen? Sollte das Ziel nicht sein: er „werde vielmehr gesund”? Sollten manche Beziehungen zu unseren Mitmenschen wenig mehr als eine gewappnete Ruhepause sein? Dann sollten auch sie vielmehr geheilt werden.
Das ist alles schön und gut, mag ein aufrichtiger Wissenschafter antworten; nehmen wir aber an, jemand habe Tag für Tag gearbeitet und gebetet, um eine Sünde oder Krankheit zu heilen; die Bemühungen hätten aber anscheinend zu keinem Ergebnis geführt. Was bleibt dann zu tun übrig? Der letzte Teil des erwähnten Kapitels zeigt klar den Weg. Anstatt die Umwälzungen des fleischlichen Gemüts als wirklich anzusehen und zu glauben, daß sie in Gottes Weltall tatsächlich bestehen, wird das vergeistigte Bewußtsein zu der Betrachtung „des himmlischen Jerusalem, und zu der Menge vieler tausend Engel” (V. 22) emporgehoben. Wissenschaft und Gesundheit erklärt „das neue Jerusalem” wie folgt (S. 592): „Die göttliche Wissenschaft; die geistigen Tatsachen und die geistige Harmonie des Weltalls; das Himmelreich oder die Herrschaft der Harmonie”.
Laßt uns zur Veranschaulichung folgendes betrachten: sieht jemand, dem die Tatsachen des Einmaleins verständnisvoll geläufig sind, die Behauptung eines Schülers, daß drei mal drei zehn sei, als ein großes Problem an? Bestimmt er sofort, daß etwas getan werden müsse, zu veranlassen, daß drei mal drei aufhöre, zehn zu sein? Sieht der Rechenlehrer seine Aufgabe im Grunde nicht darin, das zu enthüllen, was ist, anstatt das, was nicht ist, zu heilen oder zum Aufhören zu bringen? Laßt uns danach trachten, die himmlische Erkenntnis zu erfassen, daß der wirkliche Mensch jetzt und immerdar sicher im Reich der sündlosen, von Krankheit freien Harmonie wohnt; dann muß das, was Heilung genannt wird, was aber genauer genommen als ein Erwachen bezeichnet werden kann, folgen.
Man gebe keine Veranlassung, daß gesagt werden kann, die Christliche Wissenschaft habe ein Leiden nur gelindert; es sollte vielmehr geheilt werden. Sich geltend machende Eifersucht, Furcht oder Sünde sollte nicht bloß beschwichtigt werden, sie sollte vielmehr geheilt werden. Dieses große Kapitel schließt mit der einfachen, aber herrlichen Erklärung: „Unser Gott ist ein verzehrend Feuer”. Laßt uns daher angesichts der von dem einen Übel gezeichneten gesetzlosen, unharmonischen Bilder siegesbewußt erklären, daß das Wort Gottes sich mit Majestät und Macht bekundet und weder Niederlage noch Umkehrung dulden kann! Laßt uns Gott danken, daß eine christlich-wissenschaftliche Behandlung dem menschlichen Bewußtsein das Licht der Wahrheit bringt, und die Traumschatten des materiellen Sinnes daher wie alle Finsternis schnell und dauernd vertrieben werden können! Das Gesetz der allmächtigen Liebe ist wahrlich ein verzehrendes Feuer für alles, was ihr ungleich ist!
