Mutter und Sohn fanden, daß es nicht leicht war, auf dem gepflügten Boden zu gehen. Obgleich der kleine Junge kräftig war, begann er zu denken, daß er weit, weit von Zuhause weg und müde sei. Schließlich sah er zu seiner Mutter auf und sagte: „Mutter, führe mich an der Hand!” Verständnisvoll griff die Mutter augenblicklich nach seiner ausgestreckten Hand und hielt sie fest.
„Sollen wir ein wenig ausruhen?”, fragte sie. Dort vorn ist ein großer Baum; das ist ein schöner Platz, wo wir im Schatten sitzen und uns auf Dinge besinnen können. Wir müssen unterwegs wohl vergessen haben, uns zu erinnern, mein Sohn, sonst könnten wir doch nicht müde sein, nicht wahr?” Als sie im Schatten saßen, begannen sie ihr Erinnerungsspiel, wie sie es nannten.
„Mir fällt ein”, sagte die Mutter sanft: „‚Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft‘”
„Und ich erinnere mich”, sagte der Knabe mit freudiger Miene, „daß wir in der Sonntagsschule singen: ‚Und Mutter findet ihr Heim und himmlischen Frieden‘” (Gedichte von Mary Baker Eddy, S. 5).
„‚Gott ruht im Wirken‘” (Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, S. 519), führte die Mutter nachdenklich an.
„Gott kann nicht müde sein, nicht wahr, Mutter? Und ich bin zu Seinem Ebenbild geschaffen”, fügte er hinzu.
Sie fuhren fort, sich Stellen ins Gedächtnis zu rufen. Sie vergegenwärtigten sich viele Wahrheitserklärungen aus der Bibel und aus Wissenschaft und Gesundheit, bis ihnen Gottes Gegenwart und Seine Fähigkeit, was not tut, zu geben, wirklicher wurde. Bald leuchteten ihre Augen wieder, sie fühlten sich gestärkt und waren in ganz kurzer Zeit zu Hause.
Wie viel Ähnlichkeit dies doch mit unserer Wanderung vom Sinn zur Seele hat! Wenn wir manchmal ganz ermatten an schwierigen Stellen auf dem Weg, der zum wirklichen Sinn des Heims, d.h. zu einem noch weit entfernt scheinenden harmonischen Gedankenzustand führt, empfinden wir das Verlangen und das Bedürfnis, uns aufs neue zu stärken. Unsere weise Führerin wußte gut, daß im Leben jedes Wissenschafters Zeiten kommen, wo er dankbar ist für einen Platz, an dem er in stillem Nachdenken den Vater und die Mutter aller demütig bitten kann, ihn an der Hand zu führen. Daher wurden die Lesezimmer der Christlichen Wissenschaft vorgesehen.
Für viele, die sich erst bewußt werden, daß sie die Kinder Gottes, des Guten, sind, ist das Lesezimmer der Christlichen Wissenschaft der einzige Ort, wohin sie gehen können, um ungestört nachzudenken. Es ist für sie eine wahre Oase inmitten der unruhigen, sterblichen Gedanken, denen sie in und außer dem Heim begegnen. Hier haben sie ununterbrochen Gelegenheit, die Untrennbarkeit Gottes von Seinen Kindern, die Immergegenwart des geistigen Guten, verstehen zu lernen oder sich ins Gedächtnis zu rufen.
Es ist mir vergönnt gewesen, in einem Lesezimmer zu dienen. Die Bücherwarte und Verwalter der Lesezimmer sammeln viele und unschätzbare Erfahrungen. Wer dieses Amt versieht, verfolgt oft mit Freude das Wachstum eines Besuchers, der regelmäßig kommt, um weiterzuforschen.
Einmal kam ein junges Mädchen in diese Zuflucht. Ihre ganze Erscheinung zeugte von viel Leiden, von Sünde, Armut und Hoffnungslosigkeit, von einem fast vernichteten Menschenleben. Irgendwo auf dem abschüssigen Weg, auf dem sie gekommen war, war sie jedoch auf diese Zuflucht hingewiesen worden, wo sie in stillem Nachdenken Gottes Hand finden konnte, wo sie ihre Hand in Seine legen und so die Kraft erlangen konnte, zu dem Bewußtsein heimzukehren, das nur das geistig Gute widerspiegelt. Dieses junge Mädchen lernte so schnell verstehen, was das Geburtsrecht eines Kindes Gottes — ihr Geburtsrecht — war, daß sie in kurzer Zeit innerlich umgewandelt war, und infolgedessen spiegelte ihre ganze äußere Erscheinung die Änderung in ihrem Denken wider. Man hätte dieses aufgeweckte, geordnete, glückliche Mädchen kaum wiedererkannt als dieselbe Person, die einige Wochen vorher ins Lesezimmer gekommen war.
Dieses junge Mädchen hatte bewußt die Ermahnung der Bibel erfüllt: „Verändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, auf daß ihr prüfen möget, welches da sei der gute, wohlgefällige und vollkommene Gotteswille.” Sie hatte gefunden, daß sie wahrhaft das geistige Bild und Gleichnis Gottes war. In der Stille eines Lesezimmers der Christlichen Wissenschaft hatte sie gelernt, wie sie sich vertrauensvoll an ihren himmlischen Vater wenden und sagen konnte: „Lieber Vater-Mutter-Gott, führe mich an der Hand.”
Unter dem heutigen Druck und Drang menschlicher Ereignisse haben viele keine Gelegenheit oder Zeit, ein Lesezimmer zu besuchen; aber vieles, was das Lesezimmer zu bieten hat, wird denen gesandt, die im Dienst ihres Vaterlandes stehen, und es wird allen, die um das, was sie brauchen, ersuchen, uneingeschränkt gegeben. Und auf jedem Arbeitsgebiet ist auch Gelegenheit geboten, die große Wahrheit verstehen zu lernen, daß das Trennen des Irrtums vom Denken durch das Wissen, daß Gott und der Mensch ewig eins sind, nicht von einer ruhigen Umgebung abhängig ist, noch durch Lärm oder Wirrnis von außen gehindert werden kann. Man kann sich Gottes nur in seinem Denken bewußt werden, und genau in dem Maße, wie man verständnisvoll in Gott bleibt, führt Er einen an der Hand.
