Es gibt wohl wenige, die sich Christen nennen und nicht jenes schöne alte Kirchenlied kennen: „Ich brauche dich zu jeder Stunde.” Die Verfasserin Annie Hawks, die vor über hundert Jahren geboren wurde und eine Zeitgenossin Mary Baker Eddys war, drückte in den rührenden Zeilen ihres Liedes die ewige Sehnsucht der Menschheit nach geistigem Schauen aus — jenem Bewußtsein von Gottes Macht und Gegenwart, das allein den Menschenkindern wahren Trost und wahre Führung bringen kann.
Ich brauche dich, o, ich brauche dich;
Zu jeder Stunde brauch’ ich dich!
So klingt der wohlbekannte Endreim. Und alle — sei es Mann, Frau oder Kind — die erkennen, was ihnen not tut, und demütig und mit Verständnis um geistige Erleuchtung beten, sind sicher und geborgen. Kann irgend jemand, der scheinbar noch auf der Erdenbahn wallet, mit Gewißheit von sich sagen, daß er so weit vorgeschritten ist, daß er das Gebet des Flehens nicht mehr braucht?
Unsre Führerin Mary Baker Eddy, die die Kranken heilte, wie sie seit den Anfängen des Christentums nicht mehr geheilt worden waren, und deren erhabenes geistiges Schauen uns das erleuchtende Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift” schenkte, fand es nicht unwissenschaftlich zu beten (Gedichte, S. 14):
„Hirte mein, zeige mir, wie ich soll gehn
Über die steilen, die einsamen Höh’n,
Wie ich wohl sammeln, wie säen ich kann,
Wie deine Schafe ich weiden!”
Das Gebet des Herrn ist eine Verbindung von demütigem Flehen und mächtigem Behaupten. So sollten auch die Wahrheitsbehauptungen des Wissenschafters von Gebeten um Liebe, Verstehen und geistige Kraft begleitet sein.
Auf Seite 127 ihres Buches „Miscellaneous Writings” rät Mrs. Eddy ihren Nachfolgern liebevoll, täglich für sich selbst zu beten. Sie zögert nicht, sie geradezu zu beschwören, daß sie ihren himmlischen Vater anflehen sollen um das, was dem Menschenherzen am meisten not tut. Sie schreibt: „Wenn dieses Herz, demütig und vertrauensvoll, die göttliche Liebe in Aufrichtigkeit bittet, es mit dem Brot des Lebens — Gesundheit und Heiligkeit — zu speisen, so wird es bereitet werden, die Antwort seines Flehens zu erlangen; dann wird Gott es tränken ‚mit Wonne als mit einem Strom’, dem Einströmen der göttlichen Liebe, und großes Wachstum in der Christlichen Wissenschaft wird folgen, nämlich jene Freude, die das eigene Beste in dem des andern findet.”
Darum, wenn derjenige, der sich Christlicher Wissenschafter nennt, so der Selbstsuggestion verfallen ist, daß er nicht mehr den Herzenshunger nach mehr Gnade und himmlischer Erleuchtung spürt, noch den Drang fühlt, inständig um diese Gaben des Geistes zu flehen, dann mag sein Gebet der Wahrheitsbehauptung wenig mehr sein als ein tönend Erz oder eine klingende Schelle.
Manchmal hört man von einem Neuling in der Christlichen Wissenschaft, daß er bei dem Übergang von zweifelhaften theologischen Begriffen zu dem, was geistige Wahrheit lehrt, in Verwirrung geraten ist betreffs des Gebets. Er erkennt, daß unser Gebet mehr sein sollte als nur blindes Bitten, und hat gewissermaßen diese Art zu beten aufgegeben; und da er das freudebringende Bewußtsein, das das Behaupten von Gottes Macht und Gegenwart mit sich bringt, noch nicht voll erfaßt hat, ist er sozusagen gebetlos geworden. Doch niemand sollte das holde Empfinden inniger Gemeinschaft mit Gott verlieren. Niemand sollte denken, daß es unwissenschaftlich sei, seine Angelegenheiten mit dem himmlischen Vater zu beraten.
Die geistig-gesinnten Propheten des Alten Testamentes wandelten und redeten mit Gott in rührend kindlicher Intimität. Der Meister wendete sich an seinen Vater mit natürlicher Ursprünglichkeit; und wir sehen, wie in unsrer Zeit unsre Führerin Mrs. Eddy, ganz besonders in ihren Gedichten, um Licht, Liebe und Leitung betet. Wer wird schließlich durch das Gebet gesegnet —Gott oder die Menschheit? Wird etwa die Gottheit dadurch umgewandelt und gesegnet? Ist es nicht das menschliche Bewußtsein allein, dem es „not tut zu beten”, wie das bekannte geistliche Lied der Neger es ausdrückt? Was daher darauf zielt, das Denken zu erheben vom unharmonischen Materialismus zur bewußten Einheit mit der göttlichen Liebe und der erlösenden Wahrheit, das ist Gebet im höchsten Sinne des Wortes.
Dieses Gebet mag einfach eine Wiederholung der kindlichen Antwort Abrahams sein: „Hier bin ich,” wozu noch hinzugefügt werden könnte: „Ich höre, Vater.” Dann wieder können wir die Worte gebrauchen, die Jesus am Grabe des Lazarus sprach: „Vater, ich danke dir, daß du mich erhöret hast” (Joh. 11:41). Welche Erleuchtung, welche Heilung würde sich kundtun in unsern Gottesdiensten, wenn immer mehr Wahrheitsforscher täglich beteten:
„Öffne mir das Herz, erleuchte mich,
o göttlicher Geist!”
Wie viele Bürden würden erleichtert werden, und welch ermutigendes Eingehen auf metaphysische Behandlung würde in Erscheinung treten, wenn die christlich-wissenschaftlichen Helfer um mehr geistiges Schauen und Seelensinn beteten, ehe sie sich dem Gedankenheim ihrer Patienten nahen!
Eine Christliche Wissenschafterin hatte sich lange und aufrichtig bemüht, das heilende Licht der Wahrheit einer Frau zu bringen, die zwar den Buchstaben der Wissenschaft ganz gut kannte, doch an dem Geist der Liebe, Demut und Aufnahmefähigkeit gar traurig ermangelte. Wenn die Ausüberin irgend eine gewisse Idee aufbrachte, antwortete sie stets, daß sie das schon alles wüßte. Die Wissenschafterin fragte, ob sie schon über dieses oder jenes nachgedacht hätte. Ja, auch das hatte sie schon getan. Ob sie sich die Beziehung des Menschen zu Gott klargemacht hätte? Aber natürlich, das alles verstand sie schon seit Jahren. Schließlich neigte die geduldige Ausüberin ihr Haupt in stillem Gebet. „Lieber Gott,” flüsterte sie, „zeige mir doch etwas, was diese Frau nicht schon weiß.” Fast augenblicklich kam ihr wie ein Lichtstrahl ein Bibelvers in den Sinn, der den Irrtum aufdeckte. Die Kranke nahm demütig die Wahrheit dieser Botschaft in sich auf und wurde geheilt.
„Wo keine Weissagung ist, wird das Volk wild und wüst,” sagte der Weise in Jerusalem (Sprüche 29:18). Webster sagt, daß geistiges Schauen das Erkennen von Dingen bedeutet, „die von dem gewöhnlichen Gesichtssinn nicht wahrgenommen werden können”. Sehnt sich nicht die Menschheit in diesen Tagen der Verdunklung und Verwirrung nach Männern und Frauen, die jenes geistige Schauen zu eigen haben? Und ist es nicht ein ermutigendes Zeichen der Zeit, daß endlich die Idee einer geordneten, kriegslosen menschlichen Gesellschaft im Bewußtsein von Menschen und Völkern Wurzel zu schlagen scheint?
Wenn der Christliche Wissenschafter bemerkt, daß politische Ränke am Werk sind, um selbstsüchtige Ziele und Zwecke zu erreichen, dann bietet sich ihm die Gelegenheit, um geistiges Schauen zu beten, sich danach zu sehnen und dafür zu arbeiten, indem er Gott dankt, daß, da es in Wirklichkeit nur ein Gemüt gibt, und da dieses Gemüt stets gegenwärtig ist, geistiges Schauen und Weitsichtigkeit auch gegenwärtig sein und sich bekunden müssen.
„Ich brauche dich zu jeder Stunde.” Ja, der Geschäftsmann in führender Stellung, der Arbeiterführer, die Männer in unsern gesetzgebenden Körperschaften brauchen geistiges Schauen. Sie müssen sich klar darüber sein, daß sie es nötig haben, und willig sein, darum zu beten.
Ein jeder, der sich in irgend einem schlimmen Sumpf befindet, welcher Natur dieser auch sein mag, sollte um jenes geistige Schauen der Wirklichkeit beten, das sein Denken zu dem Reich harmonischen, unzerstörbaren Seins erheben wird. Wenn jemand die Klarheit der geistigen Wahrheit erschaut, so wird er nicht ein unpraktischer sogenannter Träumer, sondern ein Seher.
Voller Freude liest er diese inspirierenden Worte des Propheten Hesekiel (Hesek. 12:22, 23): „Du Menschenkind, was habt ihr für ein Sprichwort im Lande Israel und sprecht: Weil sich’s so lange verzieht, so wird nun hinfort nichts aus der Weissagung? Darum sprich zu ihnen: So spricht der Herr, Herr: Ich will das Sprichwort aufheben, daß man es nicht mehr führen soll in Israel. Und rede zu ihnen: Die Zeit ist nahe und alles, was geweissagt ist.”
