In ihrer Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1902 schreibt Mary Baker Eddy (S. 19): „Der Christliche Wissenschafter hegt keinen Groll; er weiß, daß ihm dies mehr schaden würde als alle Bosheit seiner Feinde. Brüder, vergebet, gerade wie Jesus vergab.”
Fragen wir uns nun: Hegen wir Haß, Groll, ein Gefühl der Ungerechtigkeit mit Bezug auf soziale Zustände, auf Zustände oder Beziehungen in der Familie, im Geschäft, im Volk oder in der Welt? Lassen wir nicht ab von Groll; Haß, einem Gefühl der Ungerechtigkeit, des Selbstbedauerns, der Enttäuschung, der Furcht oder der Reue im Hinblick auf eine Person oder einen Zustand in der eigenen Erfahrung oder in Weltangelegenheiten? Wenn es der Fall ist, sollten wir an die Erklärung unserer Führerin denken, daß eine solche Haltung uns mehr schadet als alle Bosheit unserer Feinde.
Mrs. Eddy heißt uns vergeben, wie Christus Jesus vergab. Und das Gebet, das er uns gegeben hat, enthält die herrlichen Worte: „Vergib uns unsere Schulden, wie wir unsern Schuldigern vergeben.”
Vergeben bedeutet etwas aufgeben: Groll aufgeben und lieben; den Haß in unserem Herzen aufgeben, und ihn durch Liebe ersetzen; einen falschen Begriff aufgeben, um den wahren Begriff festzuhalten; Böses aufgeben, um Gutes zu erlangen. Das Vergeben ist von niemand außer uns abhängig. Es ist das Erlangen des heilenden Bewußtseins der Liebe, und es ist uns allen heute und jeden Tag möglich.
Persönliches abfälliges Urteilen ist ein Fehler, den vielleicht noch zu wenige von uns ganz aufgegeben haben. Das sterbliche Gemüt macht es durch seine beharrlichen Einflüsterungen dem, der diesen Einflüsterungen Gehör schenkt, leicht, die Personen in seiner Umgebung als unvollkommene Sterbliche zu sehen. Und ein solches abfälliges Urteilen, das blind dafür ist, daß unser Bruder — die wahre Idee Bruder — der individuelle Ausdruck Gottes ist, ist oft von Bitterkeit, Enttäuschung, Verhöhnung, falschem Ehrgeiz oder Mißfallen begleitet. Abfälliges Urteil richtet sich nicht gegen unsern Bruder, sondern gegen einen falschen Begriff von unserem Bruder, den wir willens sind zu hegen.
Wer über andere abfällig urteilt, glaubt, daß ihnen irgend eine gute Eigenschaft oder Begabung fehle. Wer also abfällig urteilt, hat die Annahme Mangel in sein eigenes Bewußtsein aufgenommen. Berichtigt er diese Annahme nicht, so kann er selber Mangel irgend welcher Art bekunden. Haben wir nicht alle schon Beispiele hievon in unserem Verkehr mit andern gesehen? Gelegentlich begegnen wir jemand, der tatsächlich arm — enttäuscht, tadelsüchtig, unzufrieden und gewöhnlich überzeugt ist, daß jemand oder etwas außer ihm die Ursache seines Elends sei.
Armut und Mangel, Niedergeschlagenheit und Einsamkeit sind jedoch keine von außen auferlegten Zustände. Sie sind Lügen des fleischlichen Sinnes, die derjenige, der sie bekundet, glaubt.
Von einer mißlichen Lage kann man oft sagen hören, daß das sterbliche Gemüt daran schuld sei; doch sollte man auch fragen: „Aber wer hat daran geglaubt?” Das tadelsüchtige, niedergeschlagene oder armselige Denken ist nie von Dankbarkeit begleitet. Wenn Dankbarkeit Einlaß findet, vergehen mißliche Zustände; denn Dankbarkeit ist die Folge davon, daß man seine Einheit mit der göttlichen Liebe anerkennt und sich zu eigen macht. Dadurch verbindet man sich mit dem göttlichen Reichtum und Frieden und mit der göttlichen Fülle. Da Mrs. Eddy die Wichtigkeit dieser geistigen Eigenschaft erkannte, schrieb sie im Handbuch Der Mutterkirche (Art. XVII, Abschn. 2): „Dankbarkeit und Liebe sollten jeden Tag alle Jahre hindurch in allen Herzen wohnen.”
Ein junger Soldat in einem Truppenlager hatte sich den Finger so verletzt, daß er fast von der Hand abgetrennt war. Er wurde im Lazarett von den Ärzten behandelt und der Finger begann zu heilen, war aber krumm, und er konnte ihn nicht gerade strecken. Die Ärzte schnitten daher an dem Finger, der zum zweitenmal zu heilen begann, aber wieder steif und krumm war.
Als die Mutter des jungen Mannes ihn im Truppenlager besuchte, ließ sie den christlich-wissenschaftlichen Feldgeistlichen rufen. Er erkannte, daß das Denken des Patienten durch Haß, Unwillen und Verstimmung verdreht war, und deckte ihm dies auf. Am nächsten Morgen bat der junge Mann den Christlichen Wissenschafter, ihm eine Behandlung zu geben.
Als der Christliche Wissenschafter das nächste Mal ins Lazarett kam, hielt der junge Mann seinen Finger hoch, der nun gerade war und normal zu heilen angefangen hatte, und er sprach seinen Dank aus für die Behandlung. Es wurde ihm freundlich gezeigt, daß die Heilung zustande kam, nachdem der Irrtum in seinem Denken aufgedeckt und zerstört war.
Wie wahr die Erklärung ist: „Behüte dein Herz mit allem Fleiß; denn daraus geht das Leben”!
