Der Ausdruck „persönliche Zuneigung” wird in der Christlichen Wissenschaft gebraucht, um eine Phase des menschlichen Denkens zu bezeichnen, die die Sterblichen gar oft betrügt, sie in unglücklichen Erdenszenen festlegt und ihren geistigen Fortschritt hindert.
Der Artikel VIII des Handbuches Der Mutterkirche, der die Überschrift „Disziplin” trägt, beginnt mit einer Regel für Selbstzucht, die grundlegend ist für die Demonstration der Christlichen Wissenschaft. Hier sagt Mary Baker Eddy unter anderem: „Weder Feindseligkeit noch rein persönliche Zuneigung sollte der Antrieb zu den Beweggründen oder Handlungen der Mitglieder Der Mutterkirche sein. In der Wissenschaft regiert allein die göttliche Liebe den Menschen.” Was bedeutet hier der Ausdruck „persönliche Zuneigung”? Er bezieht sich auf die Tendenz des menschlichen Denkens, mit falscher Liebe oder mit Haß an einem irrigen Begriff des Menschen als menschlich persönlich statt geistig individuell festzuhalten, einem falschen Begriff, der unsre Beziehungen zu Gott und zu unsern Mitmenschen beeinträchtigt.
Die Sterblichen haben eine Auffassung von ihren wechselseitigen Beziehungen, die das Ergebnis von Familienbanden, persönlichen Freundschaften, engen Verbindungen im geschäftlichen, gesellschaftlichen oder politischen Leben ist. Diese Beziehungen werden manchmal in ganz normalen Grenzen gehalten, mit voller Freiheit für individuelles Denken und Handeln unter Gottes Leitung, unbehindert durch die unwissenden Kräfte furchtsamer, beherrschender oder vergötternder persönlicher Zuneigung.
Doch nur zu oft werden diese Beziehungen unnatürlich dadurch, daß Sterbliche versuchen, andre zu besitzen oder zu beherrschen, sei es durch Eigenwillen, Furcht oder Haß, so den von Gott geschaffenen und von Gott regierten Menschen aus den Augen verlierend. Niemals ist der Mensch, der Zeuge Gottes, irgend einem Willen oder Gesetz außer dem göttlichen unterworfen.
Weiter gibt es eine persönliche Zuneigung, die sich in persönlicher Verliebtheit und geschlechtlicher Anziehung ausdrückt, und die einen hypnotischen Einfluß ausübt und so vor unserm Denken die wahre, gesunde und befriedigende Idee vom Menschen und seinen Beziehungen verhüllt, worin alle Einzelwesen bewußt mit den Kräften des schöpferischen Prinzips oder Gemüts verbunden sind, so daß sie die Bestimmung ihres Seins erfüllen können, nämlich Gott zu preisen und einander zu lieben in aufbauender Einigkeit und rechtmäßiger Wirksamkeit.
Eine andre Phase zu persönlicher Beziehungen, die jedoch nicht oft als solche erkannt werden, kommt zum Ausdruck, wenn jemand tadelnde, eifersüchtige und haßerfüllte Gedanken über einen andern hat. Hier schenkt nämlich jemand der Einflüsterung Gehör, daß zwischen ihm und dem andern Menschen eine unangenehme, negative Beziehung besteht. So schmiedet derjenige, der tadelsüchtig, eifersüchtig oder haßerfüllt ist, in seinen eigenen Gedanken eine Kette, die ihn an einen falschen Begriff von seinem Bruder fesselt. In Gedanken hält er ebenso bestimmt fest an seiner Auffassung von einem sterblichen Wesen, wie wenn er das Wesen vergötterte, obwohl die Bande eine andre Färbung haben.
Noch eine andre Form persönlicher Zuneigung ist die für einen selbst als ein materielles Wesen voller Selbstsucht und Ehrgeiz, nur begierig, die eigenen selbstischen Wünsche und Ziele zu erreichen. So sucht einer materielle Befriedigung für die Begierden eines materiellen Wesens, mit dem er sich in irriger Weise identifiziert fühlt. Er bedauert es in seinen Mißerfolgen und bemüht sich umsonst, sein Ansehen zu heben.
Der Priester und der Levit, die auf der andern Seite „vorübergingen”, waren so verblendet durch die persönliche Zuneigung zu ihrem eigenen materiellen Begriff des Selbst, daß sie nicht die Gelegenheit erkennen konnten, die sich ihnen bot, die von Gott verordnete Beziehung zwischen einem Menschen und dem andern in Erbarmen und Liebe auszudrücken.
Saul wurde fast verzehrt von den persönlichen Gefühlen, die ihn durch Eifersucht an David fesselten. Dies falsche Denken band ihn mental an einen materiellen Begriff von David und sich selbst, der ihn trennte von der wahren Idee betreffs der Vaterschaft Gottes und der Bruderschaft der Menschen, ja der wahren Idee des Seins, die ihn vor seiner Selbstzerstörung hätte beschützen und bewahren können.
David andrerseits hatte keine persönlichen Gefühle betreffs der materiellen Persönlichkeit des Saul. Er weigerte sich, Saul ein Leid anzutun, als dieser in der Höhle schlief, wo David, ohne daß der König es wußte, sich schon vorher niedergelegt hatte. Davids Denken hatte schon genug erfaßt von der geistigen Idee, daß alle Menschen als Gottes Kinder durch Ihn, für Ihn und in Ihm leben, um nicht von der Lüge, daß sie als streitende sterbliche Persönlichkeiten bestehen, irregeführt zu werden.
Viele, die geliebte Wesen in den Kriegszonen hatten, haben es nötig gefunden, sich über den falschen engen Begriff rein persönlicher Zuneigung für menschliche Wesen zu erheben. Statt dessen haben sie durch die Christliche Wissenschaft etwas von der wahren und geistigen Auffassung von sich selbst und ihren Lieben erlangt. Sie haben verstehen gelernt, wie einstmals die Sunamitin, wie viel besser Gott Seine Kinder schützen und erhalten kann als ein menschlicher Freund oder Verwandter. Sie haben ein begrenztes, furchtsames Gefühl persönlicher Zuneigung und menschlicher Liebe aufgegeben für die tröstliche Idee von Gottes allgemeiner, allumfassender Gegenwart. Dieser eine ewige Vater — das ist ihnen klar geworden — umfaßt, regiert und beschirmt ewiglich die Seinen. Darin besteht Seine Offenbarwerdung.
Absolutes geistiges Denken ist oft notwendig, um den Bann zu persönlicher Zuneigung zu brechen. Manchmal tragen diese Beziehungen den Deckmantel der Ehrbarkeit und des Brauches, manchmal dagegen den Stempel des tierischen Wesens und der Selbstsucht. Die Christliche Wissenschaft lehrt uns, in Gedanken ohne Wanken festzuhalten an der unwandelbaren Wahrheit, daß nichts wirklich ist außer dem unendlichen Gemüt und seinen Ideen, zu erkennen, daß jede individuelle Idee nur von Gott, ihrem Ursprung, abhängig ist, der ihr Leben, Bewußtsein, Stellung, Schutz und Bestimmung verleiht, daß es im Weltall des göttlichen Gemüts kein materielles Gemüt gibt, und daher keine materiell gesinnten Sterblichen. Gott kennt nur Sein eigenes Reich, und Seine Ideen kennen in Widerspiegelung nur, was Er kennt.
Jedes Einzelwesen steht in enger Beziehung mit Gott, seiner Ursache, und jedes Einzelwesen ist sich dieser Beziehung, in der es selbst ebenso wie sein Bruder mit Gott steht, bewußt. Keine Idee ist älter als eine andre Idee — wie etwa die materielle Einordnung nach Alter und Generation andeuten möchten. Alle bestehen zusammen in der einen großen Familie der Liebe, wo keiner von einem andern abhängig ist, sondern alle nur von ihrem gemeinsamen Ursprung, Gott. Alles Geben und Nehmen unter ihnen geht nicht von Motiven persönlicher Zuneigung aus, sondern es gehorcht dem Antrieb des einen Gemüts, das alle schafft, belebt, beschützt und alle in untrennbarer Bruderschaft vereinigt.
„In der Wissenschaft regiert allein die göttliche Liebe den Menschen.” Dies ist der Felsen, auf dem wir stehen müssen, um jede Form rein persönlicher Zuneigung zu überwinden. Weil „allein die göttliche Liebe den Menschen regiert”, besteht er in Ewigkeit. Sein Leben, seine Gesundheit, sein Schutz, seine Stellung, seine Wirksamkeit, seine Beziehungen zu andern sind in voller Sicherheit. „Der Herr wird’s für mich vollführen,” sagte der Psalmist. Und das ist wahr in bezug auf jedes Einzelwesen. Das Gemüt Christi weiß dies und bewirkt in uns — in dir sowohl wie mir — daß wir uns dieser Wahrheit betreffs unser selbst und unsres Bruders bewußt werden.
Wenn wir uns also von zu persönlichen Beziehungen freimachen wollen, so müssen wir uns immer mehr die Einigkeit des Menschen mit Gott klarmachen, und, anstatt an eine materielle Welt und Sterbliche zu denken, vielmehr das Reich Gottes im Auge behalten, das universell und vollkommen ist, und das von Wesen bewohnt wird, die jetzt und stets Gott ausdrücken, und die auch die wahre Individualität von dir und mir und unserm Brudermenschen miteinbegreifen. Solche Gedanken erheben das Bewußtsein über das sterbliche Gemüt und seine angebliche Schöpfung sterblicher Wesen zu der geistigen und wahren Auffassung von Gott, dem Menschen und Wechselbeziehungen. Dann werden in unsern menschlichen Angelegenheiten weniger persönliche Gefühle und mehr Vertrauen auf Gott sowie mehr von der allumfassenden Regierung der Liebe in Erscheinung treten, die sich in individueller Freiheit, Sicherheit und Sittlichkeit und in Wohlwollen offenbart. Die Christus-Idee des Seins überwindet alles Vertrauen auf zu persönliche Gefühle durch den geistigen Begriff der Einigkeit aller Menschen mit Gott und ihrer darin bestehenden Sicherheit.
Moses schrieb: „Denn der Herr, euer Gott, ist ein Gott aller Götter, ... der keine Person achtet.” Jahrhunderte später erkannte Peter, daß dies immer noch so war, und bezeugte, „daß Gott die Person nicht ansieht”. Wer darf sich anmaßen, ein menschliches Wesen höher zu bewerten als Gott es tut?
