Johannes, der Lieblingsjünger Jesu, erklärte die größte Wahrheit, die der Menschheit je kundgetan wurde, als er schrieb (1. Joh. 4:16): „Gott ist Liebe.“ Seit Jahrhunderten haben menschliche Wesen allmählich diese große Wahrheit in sich aufgenommen, indem sie der harmonischen Natur der Liebe teilhaftig wurden. Friedfertigkeit, Barmherzigkeit und Gerechtigkeit traten in gewissem Grade in dem Charakter und dem Handeln derer in die Erscheinung, die sich vom Selbst abgewendet und Gott zugewendet und die rauhen Impulse des menschlichen Willens oder der tierischen Natur überwunden hatten.
Abraham, der durch eine einfache selbstlose Handlung Frieden stiftete; Jakob, der seinen erzürnten Bruder in einem neuen Licht und gottähnlich sah; Joseph, der seinen Brüdern vergab — sie alle waren eins mit der Liebe und ragten deshalb hoch auf unter ihren Mitmenschen wie große Leuchtfeuer, die der Menschheit den Weg zu wahrer Gottesanbetung wiesen. Nur Liebe kann zu wahrer Größe führen. Ohne Liebe bleibt die wahre Wesenheit — das Ebenbild Gottes — verdunkelt und unentdeckt. Christus Jesus demonstrierte in vollem Maße, welche Möglichkeiten dem individuellen Bewußtsein innewohnen, wenn es mit Kräften, die von der göttlichen Liebe abgeleitet sind, ausgestattet ist.
Mary Baker Eddy gab der Welt die Christliche Wissenschaft — die Wissenschaft, welche die universelle Harmonie der geistigen Schöpfung der Liebe demonstriert. In der Heiligen Schrift fand sie sechs grundlegende Ausdrücke, die mit Bezug auf die Gottheit gebraucht wurden — Gemüt, Geist, Seele, Leben, Wahrheit, Liebe — und sie fügte noch einen hinzu: Prinzip. Oft verband sie diesen neuen wissenschaftlichen Ausdruck mit „Liebe“, und Liebe drückt am klarsten seine Bedeutung aus.
Im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ schreibt Mrs. Eddy (S. 302): „Gott ist Liebe. Er ist daher das göttliche, unendliche Prinzip, das Person oder Gott genannt wird.“ Wenn wir von dem Prinzip der Mathematik reden, so beziehen wir uns auf die grundlegende mathematische Wahrheit, die in den Zahlen Ausdruck findet. Wenn wir von dem göttlichen Prinzip des Seins reden, so beziehen wir uns auf die göttliche Liebe, die von allen Wesenheiten widergespiegelt wird.
Wir hören manchmal den Ausspruch: „Ich muß ihn in einen freimütigeren Geist hineinlieben“ oder auch: „Ich muß sie in gute Stimmung lieben.“ Die Offenbarung der Liebe als göttliches Prinzip erhebt den Gedanken über den persönlichen Sinn, worin man die Liebe bloß als ein Mittel gebraucht, um ein wünschenswertes Ziel zu erreichen. Sie zeigt, daß die Liebe Alles ist, und daß das wesentliche Ziel einer jeden wissenschaftlichen Demonstration darin besteht, diese Allheit zu beweisen; denn es kann nichts weiter geben.
Wenn auf unserm Pfade das Böse oder Unharmonische in die Erscheinung tritt, so ist es der größte Liebesdienst, den wir dem Menschen, der den Irrtum ausdrückt, leisten können, die Allheit der Liebe, des Prinzips der sündlosen Vollkommenheit des Menschen, anzuerkennen, und das Böse, das ihn zu beherrschen scheint, als eine grundlose Falschheit bloßzustellen. Die göttliche Liebe ist verantwortlich dafür, den Menschen vollkommen zu schaffen. Wir sind moralisch verpflichtet zu beweisen, daß die Liebe Alles-in-allem ist.
Die Christliche Wissenschaft erklärt, daß die Liebe mehr ist als ein bloßes Attribut Gottes. Die Liebe ist Gott, und jeder liebevolle Antrieb, der irgendwo im Weltall Ausdruck findet, hat seinen Ursprung in Gott, der göttlichen Liebe, und nicht im menschlichen Selbst. Im geistigen Reich des Gemüts, das die einzige Wirklichkeit des Seins ausmacht, findet Gottes Liebe vollkommenen Ausdruck, ist unteilbar und harmonisiert vollkommen mit dem einen großen Eins des Guten. Das war die Wahrheit, die Christus Jesus darlegte, als er sagte: „Was heißest du mich gut? Niemand ist gut denn der einige Gott“ (Lukas 18:19).
An einem dunklen, regnerischen Morgen bemerkte ein Christlicher Wissenschafter, der auf der Landstraße dahin fuhr, einen Mann und einen kleinen Knaben, die auf der Seite der Straße entlang wanderten. Da er eilig war, hielt er nicht an, um ihnen eine Fahrt anzubieten. Doch tat es ihm bald leid; und nachdem er etwa sieben Meilen weitergefahren war, wurde sein Bedauern so stark, daß er umkehrte und sie mit sich nahm. Der Mann erklärte, er sei seit einiger Zeit arbeitslos gewesen, doch nun wäre ihm in einer entfernten Stadt Arbeit angeboten worden, wenn er an dem Mittag dort sein könnte. Da er kein Geld hatte, machten sein Sohn und er sich im Regen auf den Weg in der Hoffnung, daß jemand sie mitnehmen würde. Der Junge fügte seine kleine Erklärung hinzu, indem er sagte: „Ich sagte dem Vater, daß Gott wohl ein Mittel finden würde, um uns dorthin zu bringen.“ In den kleinen sowohl wie den großen Dingen sollte der zusammenwirkende Plan der Unendlichkeit des Guten in unserer Erfahrung in die Erscheinung treten.
Die Christliche Wissenschaft lehrt, daß die Feinde zu lieben dem gleichen göttlichen Antrieb entstammt, wie die Freunde zu lieben; denn wahres, wissenschaftliches Lieben ist die Vergegenwärtigung von des Menschen geistiger Vollkommenheit als Gottes Ebenbild. So lange die Liebe persönlichen Vorzug zu bedeuten scheint, drückt sie nicht die unparteiische, allumfassende Liebe aus, die Prinzip ist. Wenn wir nicht alle lieben, können wir dann wahrhaftig sagen, daß wir irgend jemand lieben? Wenn wir unbarmherzig sind gegen jemand, den wir Feind nennen, doch freigebig gegen jemand, den wir Freund nennen, zeigen wir damit nicht an, daß wir die Vollkommenheit des Reiches Gottes noch nicht erfaßt haben? Verweilen wir dann nicht immer noch in einer scheinbar menchlichen Vorstellungswelt, in der Liebe Vorzug bedeutet anstatt Prinzip? Der Meister, dem Prinzip getreu, das die Liebe ist, war imstande, Judas am Vorabend seines Verrates „Freund“ zu nennen.
Mrs. Eddy sagt in ihrem Buch „Vermischte Schriften“ (Miscellaneous Writings, S. 234): „Die Liebe ist das Prinzip der göttlichen Wissenschaft; und die Liebe kann nicht durch die materiellen Sinne erfaßt werden, noch kann sie dadurch erlangt werden, daß wir in Vorspiegelung falscher Tatsachen das zu sein scheinen, zu was wir uns noch nicht erhoben haben, nämlich Christen. Durch Menschenliebe erlangen wir einen wahren Begriff von der Liebe als Gott; und in keiner andern Weise können wir diesen geistigen Begriff erlangen und uns erheben — und immer höher erheben — zu Dingen, die höchst wichtig und göttlich sind.“
Die Beziehung des Menschen zur göttlichen Liebe ist derart, daß er gezwungen ist, sie auszudrücken, nicht nur gelegentlich, sondern immerwährend, denn er ist die Widerspiegelung der Liebe. Es ist einfach, die zu lieben, die uns bewundern und schmeicheln. Doch der Beweis wissenschaftlichen wahren Liebens besteht in der Fähigkeit, sich die Allheit der Liebe zu vergegenwärtigen, wenn man scheinbar von Verrat und Bosheit umgeben ist. In der unwandelbaren Treue seines Liebens demonstrierte der Meister die ununterbrochene Einigkeit zwischen der göttlichen Liebe und ihrem Ausdruck, dem Menschen. Er sagte (Joh. 15:9): „Gleichwie mich mein Vater liebet, also liebe ich euch auch. Bleibet in meiner Liebe!“
Wenn man sich bemüht, die zu heilen, die verzweifelt um Hilfe bitten, so entdeckt man, daß die menschliche Zuneigung erschreckend hilflos ist, den Anforderungen zu genügen. Dann erhebt die Christliche Wissenschaft das Denken auf einen göttlicheren Begriff des Seins, in dem Gott Alles ist und alle liebt. Die Wahrheit kommt uns zu Hilfe mit ihren wunderbaren Erklärungen der unendlichen, unbegrenzten, herrlichen Liebe, die Gott für Seine eigene Idee hat. Das Verstehen, daß Gott Seine Idee unendlich, vollkommen und in geeigneter Weise liebt, bringt augenblicklichen Sieg; denn das Verständnis von dem Lieben der Liebe ist unwiderstehlich.
In ihrer Botschaft an Die Mutterkirche für das Jahr 1901 schreibt unsre Führerin (S. 1): „Als Christliche Wissenschafter sucht ihr Gott eurem eigenen Bewußtsein zu erklären, indem ihr das Wesen und die praktischen Möglichkeiten der göttlichen Liebe fühlt und anwendet; und das bedeutet, die absolute und volle Gewißheit zu erlangen, daß das Christentum jetzt ist, was Christus Jesus lehrte und demonstrierte: — Gesundheit, Heiligkeit, Unsterblichkeit.“ Wenn die Liebe für uns aufhört, persönlichen Vorzug zu bedeuten, und wir uns zu dem Verständnis erheben, daß sie allumfassendes schöpferisches Prinzip ist, so wird die kleinste persönliche Abneigung als unerträglich empfunden werden. Dann wird die Liebe als das Eine, als ein Ganzes, als ein ungeteilter, universeller, allumfassender Gott erkannt werden — ja, als Alles.
