Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft, bezieht sich in einer Bibellektion in ihrem Buch „Vermischte Schriften“ (S. 185) auf das Thema dieses Aufsatzes. Als Text für diese Bibellektion wählt sie eine Stelle aus dem Korintherbrief (1. Kor. 15:45): „Wie es geschrieben steht: Der erste Mensch, Adam „ward zu einer lebendigen Seele', und der letzte Adam zum Geist, der da lebendig macht.“ Im Verlauf ihrer Erörterungen zeigt Mrs. Eddy klar, daß, obwohl der materielle Sinn des Menschen (der erste Adam) in unserer menschlichen Erfahrung zuerst zu kommen scheint, so offenbart doch die Christus-Idee (der letzte Adam), wie Jesus ihn kundtat, den vollkommenen Zustand des Menschen als Gottes Ebenbild, jetzt und immerdar. Sie schreibt (S. 188): „Paulus erörtert unser Thema zuerst von der Grundlage des Sichtbaren aus, von der Wirkung der Wahrheit auf die materiellen Sinne, danach von dem Unsichtbaren, vom Zeugnis des geistigen Sinnes aus, und gerade da läßt er das Thema fallen. Gerade da nahm es die jetzige Schreiberin auf, als sie in der fortsetzenden Gedankenrichtung mit der Entdeckung der Christlichen Wissenschaft hervortrat. Und sie hat das Thema nicht fallen lassen, sondern setzt die Erklärung von der Macht des Geistes fort bis zu ihrer unendlichen Bedeutung, ihrer Allheit.“
Während Christus Jesus seine Lehre auf die Substanz und Wirklichkeit des Geistes, Gottes, gründete und zuerst und in erster Linie seine eigene geistige Gotteskindschaft erkannte, lebte und wirkte er doch in seiner Erdenlaufbahn, als der Sohn der Maria, in der „fortsetzenden Gedankenrichtung“, seinem vergeistigten menschlichen Selbst. In diesem gedanklichen Zwischenstadium lehrte und demonstrierte er den Christus, die Wahrheit, und brachte unzähligen Menschen Trost und Heilung. Schließlich gab Jesus in der Himmelfahrt jede Verbindung mit dem Fleisch und jede Beziehung zum ersten Adam auf und nahm uneingeschränkt seine Gotteskindschaft an. In der fortsetzenden Gedankenrichtung zwischen den zwei Adams, von denen Paulus spricht, entdeckte Mrs. Eddy die Christliche Wissenschaft. Sie ließ es jedoch dabei nicht bewenden, sondern fuhr fort, die reine Wissenschaft des Christentums zu suchen und deren segnenden Einfluß auf die Menschheit in ihren Schriften zu entfalten. Sie ging noch weiter: sie gründete und errichtete ihre Kirche in einer Art, daß sie sicher sein konnte, ihre Lehre würde in ihrer ganzen Reinheit erhalten bleiben.
Wir, die wir die Lehre der Christlichen Wissenschaft angenommen haben, arbeiten in der fortsetzenden Gedankenrichtung, und obwohl wir die falschen Ansprüche, die mit dem ersten Adam zusammenhängen, nicht übersehen oder unsere Augen dagegen verschließen, machen wir es uns zur Gewohnheit, sie als unwirklich abzuweisen und uns dem letzten Adam, der Christus-Idee, zuzuwenden. Hier finden wir unsere wahre geistige Selbstheit, jenes Selbst, das in Wirklichkeit an erster Stelle steht und durch welches wir den heilenden Christus erkennen und demonstrieren.
Vielleicht tritt zuweilen die Suggestion an uns heran, es sei viel leichter und angenehmer, die Ansprüche des ersten Adams zu übersehen, uns zu weigern nach dem Irrtum zu schauen und anzunehmen, wir seien fertig mit ihm, längst bevor wir seinen vielen und heimtückischen Suggestionen tatsächlich entgegengetreten sind und sie besiegt haben. Eine solche Einstellung würde uns leicht in Schwierigkeiten bringen; denn sie würde unser Denken weit öffnen für die Angriffe der aggressiven Suggestionen, ohne daß wir uns bewußt wären, was tatsächlich vorgeht. Wenn dann etwas Unangenehmes an uns heranzukommen scheint, mögen wir uns fragen: „Warum, ja warum ist mir das zugestoßen?“ In der fortsetzenden Gedankenrichtung bleiben wir wachsam gegenüber den Ansprüchen des Irrtums und wenn wir uns dem Geist, der da lebendig macht, dem Geist des immer gegenwärtigen Christus, zuwenden, dann können wir ihre Unwirklichkeit erkennen und sie als falsche Suggestionen bekämpfen und besiegen.
In einer Orchesterprobe übersieht der Dirigent keinen Fehler. Zwar sucht er im Orchester nicht nach Fehlern oder falschen Phrasierungen, denn seine Gedanken sind ausschließlich dem Einstudieren der Symphonie gewidmet. Sein Ohr ist jedoch so auf die Musik abgestimmt, daß jeder Fehler im Orchester sofort von ihm bemerkt wird, während ein Zuhörer, der weniger vertraut mit der Musik ist, vielleicht überhaupt keinen Fehler entdeckt. Der Dirigent wird, auf Grund seiner Wachsamkeit und seiner Kenntnis der Komposition, das Spiel sofort unterbrechen und den Fehler berichtigen lassen.
Genau so verhält es sich mit der Ausübung der Christlichen Wissenschaft. Wir brauchen nicht nach dem Irrtum zu suchen oder ihn an jeder Ecke zu erwarten; wenn wir aber im Denken den Begriff des vollkommenen Gottes, des Geistes, und des vollkommenen zu Gottes Ebenbild geistig und ohne Fehl erschaffenen Menschen beanspruchen und daran festhalten, so wird die irrige Vorstellung, die der Berichtigung bedarf, entweder im eigenen Denken oder in dem des Hilfesuchenden aufgedeckt und überwunden werden. Der Dirigent, der Sympathie und Mitgefühl hat, wird sein Orchester leicht zur besten Leistung führen; und der christlich-wissenschaftliche Ausüber oder Lehrer, der Güte und Mitgefühl seinen Patienten oder Schülern gegenüber hat, wird ohne Zweifel gute Resultate mit seiner Arbeit erzielen.
Im christlich-wissenschaftlichen Lehrbuch „Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift“ (S. 115) erörtert Mrs. Eddy die „wissenschaftliche Übertragung vom sterblichen Gemüt“ und spricht von drei Graden. Es ist bemerkenswert, daß in dem zweiten Grad oder der Zwischenstufe gewisse moralische Eigenschaften genannt werden: „Menschlichkeit, Ehrlichkeit, Herzenswärme, Erbarmen, Hoffnung, Glaube, Sanftmut, Mäßgkeit.“ Und es ist von höchster Wichtigkeit, daß diese Übergangseigenschaften von denen ausgedrückt werden, die in der Christlichen Wissenschaft nach der Vergeistigung ihres Denkens und Lebens streben. Diese Übergangseigenschaften der Zwischenstufe können nicht außer acht gelassen werden, denn jeder Versuch, sie zu umgehen, wird die Erreichung des dritten Grades verhindern, des „Verständnisses“ mit seinen begleitenden geistigen Eigenschaften: „Weisheit, Reinheit, geistiges Verständnis, geistige Kraft, Liebe, Gesundheit, Heiligkeit.“
Unter den von Mrs. Eddy erwähnten Übergangseigenschaften ist Sanftmut von größter Bedeutung; doch dieser Ausdruck hat keineswegs etwas mit Schwäche zu tun. Jesus war sanftmütig, denn er verstand, daß er nichts von sich selber tun konnte und sagte das auch; doch er war mächtig, da er die Macht Gottes widerspiegelte.
Der Verfasser wurde einmal mit einer Arbeit betraut, von der er glaubte, er habe nicht die Fähigkeit und Kraft, sie zu tun; dennoch war er überzeugt, daß es seine Pflicht und sein Vorrecht war, sie zu übernehmen. Es gab ihm viel Trost, sich der Worte Jesu zu erinnern, daß er nichts von sich selber tun könne. So wandte er sich rückhaltlos an Gott, die Quelle aller Intelligenz und Fähigkeit. Er wußte, daß er als wirkliche Widerspiegelung Gottes aus den Hilfsquellen des göttlichen Gemüts schöpfen konnte und mit diesem Verständnis ging er voran. In demütiger Dankbarkeit kann er heute sagen, daß die Arbeit erfolgreich durchgeführt wurde. Obwohl unsere Arbeit im Zwischenstadium zwischen dem ersten und dem letzten Adam liegt — sei es in der Familie, in landwirtschaftlichen Arbeiten, in der Fabrik oder in der Sprechstunde eines Ausübers — wir bedürfen des Geistes, der da lebendig macht, des Christus-Bewußtseins, das uns in unserem Arbeiten stützt und hält. In dieser Weise lernen wir, den letzten Adam im Gedanken und Verständnis an erste Stelle zu setzen, und das berechtigt uns zu der Erwartung, daß unsere ehrlichen Bemühungen von Erfolg gekrönt sein werden.
Im Geschäftsleben muß zuweilen ein Angestellter aufgefordert werden, sich pensionieren zu lassen. Der Christliche Wissenschafter betrachtet dies Ereignis nicht als Abschluß seines nützlichen Wirkens, vielmehr als eine Gelegenheit zu tätigerem Dienst in den weiten Bereichen Der Mutterkirche und zu dem Beweis, daß man sich von der Pflicht, das Wirken des göttlichen Gemüts widerzuspiegeln, nicht in den Ruhestand zurückziehen kann; noch gibt es eine Pensionierung von der Arbeit in einer Zweigkirche Christi, Wissenschafter. Hat ein Mitglied eine Anzahl Ämter in seiner Kirche erfolgreich bekleidet und ist die Zeit für andere gekommen, diese Verwaltungsämter zu übernehmen, so bleibt doch noch viel für dieses Mitglied zu tun übrig. Es kann die Gottesdienste und Versammlungen besuchen und sie durch seine Anwesenheit und sein geistiges Verständnis stützen. Es kann sich bereit halten, Besuchern zu helfen und ihnen Mut zuzusprechen; es kann sich vorbereiten, geistigen Beistand und Behandlung zu geben, falls darum gebeten wird. Es kann durch regelmäßige Besuche das Lesezimmer seiner Kirche unterstützen; denn wenn die Mitglieder ihr Lesezimmer nicht hoch einschätzen und von ihm Gebrauch machen, wie kann dann erwartet werden, daß Fremde und Suchende die unschätzbaren Dienste in Anspruch nehmen, die ein Lesezimmer zu bieten hat?
Der Kirche Christi, Wissenschafter, fällt in dieser Zwischenspanne eine wichtige Rolle zu, denn durch sie wird die geistige Lehre der Christlichen Wissenschaft gefördert und rein erhalten. Es gibt noch niemanden in heutiger Zeit, der sich über die Notwendigkeit einer Kirchenorganisation hinaus entwickelt hätte. Jesus sprach von seinem Körper als diesem „Tempel“. Er sagte (Joh. 2:19): „Brechet diesen Tempel ab, und am dritten Tage will ich ihn aufrichten.“ Die Juden glaubten, er spräche von ihrem großen Tempel, doch er meinte, daß sein eigener körper von den Toten auferstehen würde. In „Wissenschaft und Gesundheit“ definiert Mrs. Eddy das Wort „Tempel“. Diese Definition lautet zum Teil (S. 595): „Leib; die Idee des Lebens, der Substanz und Intelligenz; der Bau der Wahrheit; der Schrein der Liebe.“
Im Licht der Worte Jesu und der oben angeführten Definition wird es klar, daß die Zeit, unsere Verpflichtung zur Kirchenarbeit aufzugeben, nicht eher kommen wird, bis wir in der „fortsetzenden Gedankenrichtung“ vorangeschritten sind, bis wir die Vorstellung von einem menschlichen Körper überwunden und das Himmelreich des vollständig geistigen Bewußtseins betreten haben. In der Zwischenzeit erhalten wir unseren individuellen Tempel, unseren menschlichen Sinn von Körper, in einem Zustand der Tätigkeit und des Wohlbefindens, genährt und gekleidet; doch nicht indem wir ihm übersehen, sondern indem wir verstehen, daß wir in Wirklichkeit geistige Ideen Gottes sind, die Leben, Substanz und Intelligenz ausdrücken. So erhalten wir uns als Kirchenmitglieder unser gegenwärtiges Verständnis von Kirche und zwar nicht dadurch, daß wir sie außer acht lassen, sondern dadurch, daß wir tun, was wir können, um ihren Fortschritt zu fördern, verstehen, daß die Kirche in der Tat „der Bau der Wahrheit, der Schrein der Liebe“ ist.
Während wir die menschlichen Übergangseigenschaften in der fortsetzenden Gedankenrichtung, von der Mrs. Eddy spricht, bekunden — in unserem individuellen Leben sowie in unserer Kirchenarbeit — laßt uns stets der Tatsache eingedenk bleiben, daß der zum Bild und Gleichnis Gottes erschaffene Mensch geistig und vollkommen ist, hier und jetzt; und daß dies der Standpunkt ist, auf den wir unser ganzes Denken und Hoffen in der Christlichen Wissenschaft gründen. So werden wir erkennen, daß das biblische Zeugnis wahr ist (Matth. 20:16): „Also werden die Letzten die Ersten und die Ersten die Letzten sein.“
Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Stuhl zu sitzen, wie ich überwunden habe und mich gesetzt mit meinem Vater auf seinen Stuhl. — Offenbarung 3:21.