Die Erzählung von dem verlorenen Sohn, wie sie im 15. Kapitel des Lukasevangeliums aufgezeichnet ist, spricht die Menschen unserer Tage ebenso lebendig an, wie sie diejenigen ansprach, die den Worten des großen Nazareners lauschten. Es wird uns darin von einem Sohn berichtet, der sich in einem fremden Lande befand und der Verzweiflung nahe war und der dann in sein Heim der Liebe und Geborgenheit zurückkehrte. Die eigentliche Bedeutung dieses Gleichnisses erkennen wir, wenn wir es im Licht der biblischen Voraussetzung betrachten, die von der Christlichen Wissenschaft betont wird: nämlich, daß Gott das allumfassende Gute ist und daß der Mensch das Ebenbild Gottes ist, das nie von seinem geistigen Ursprung getrennt existiert.
Zwei Dinge lassen sich aus der Erzählung klar erkennen: erstens, die Unrechtmäßigkeit und Unhaltbarkeit des falschen Anspruches, der Mensch könne in der Knechtschaft der Sünde und des Leidens gehalten werden; zweitens, die entgegengesetzte Tatsache, daß der Mensch unauflöslich mit seinem Schöpfer, der göttlichen Wahrheit und Liebe, verbunden ist.
Das Gleichnis vom verlorenen Sohn mag auch dazu dienen, diejenigen zu ermutigen, die da meinen, sie seien so weit von einer erleuchteten und intelligenten Lebensweise abgewichen, daß eine Umkehr unmöglich erscheint. Der von dem verlorenen Sohn zuerst gewählte Weg mag sehr verlockend ausgesehen haben, denn er führte ihn geradewegs in eine Welt des fröhlichen und sinnlichen Wohllebens. Er gab sich dem Taumel des Vergnügens hin, bis seine materiellen Mittel erschöpft waren und er innewurde, daß er nichts mehr besaß. Hungrig und elend, sank er tiefer und tiefer.
Dann geschah es, daß er in der dunkelsten Stunde der Not an seinen Vater dachte. Dieser neugeborene Gedanke begann sich zu vertiefen und auszuweiten, bis er zu dem Entschluß heranreifte: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.“
Die Christliche Wissenschaft besteht mit Nachdruck darauf, daß es einen Ausweg aus jeder Notlage gibt, unabhängig davon, ob sie sich nun als Sünde, Furcht, Armut, Verlassenheit, Krankheit oder als irgendeine andere Form des Leides zeigt. Aber die Wissenschaft geht weit über diesen Punkt hinaus, indem sie das menschliche Bewußtsein über sich selbst hinaus zu einer solchen geistigen Höhe erhebt, daß die wahre Natur des Menschen als des Ebenbildes Gottes erkannt wird. Sie offenbart von neuem die biblische Tatsache, daß der Mensch, der Ausdruck Gottes, in einem geistigen Universum lebt und wirkt. Er kann sich nie auch nur für einen Augenblick aus der unendlichen göttlichen Schöpfung entfernen; daher ist es ihm unmöglich, mit dem Irrtum in Berührung zu kommen oder sich gar mit ihm zu verbinden.
Angesichts der Tatsache, daß das göttliche Gemüt allen Raum erfüllt und alle Macht besitzt, kann das gegenteilige Zeugnis der sogenannten körperlichen Sinne keinen Anspruch auf Wirklichkeit und Wahrheit haben. Auf Seite 470 des christlich-wissenschaftlichen Lehrbuches „Wissenschaft und Gesundheit“ von Mary Baker Eddy finden wir die folgende fundamentale Erklärung: „Die Beziehungen von Gott und Mensch, von dem göttlichen Prinzip und der Idee, sind in der Wissenschaft unzerstörbar; und die Wissenschaft kennt weder Abfall von der Harmonie noch Rückkehr zur Harmonie, sondern sie vertritt die Ansicht, daß die göttliche Ordnung oder das geistige Gesetz, demzufolge Gott und alles, was Er schafft, vollkommen und ewig ist, in seiner ewigen Geschichte unverändert geblieben ist.“
In dem Bewußtsein dieser unverrückbaren Ordnung des Seins, in das keine Voraussetzung einer Störung oder Trübung eintreten kann, vollbrachte der Meister seine beispielhaften Werke. Er entkleidete das Böse aller scheinbaren Wirklichkeit und brachte die machtvolle Tatsächlichkeit des Guten ans Licht. Was die Welt als mächtig und schreckensvoll, wenn nicht gar als unüberwindlich erachtete, das floh, als ihm mit einigen wenigen Worten der Wahrheit entgegengetreten wurde, buchstäblich in alle Winde davon. Konnte die Unwirklichkeit und Ohnmacht des Bösen klarer veranschaulicht werden ?
Die Christliche Wissenschaft erklärt mit biblischer Autorität, daß Gott Alles-in-allem ist und daß außer Ihm keiner ist. Sie erkennt keine Macht oder Gegenwart neben Gott an. Sie lehrt ferner, daß alles Wertlose oder Schädliche — alles Gott Entgegengesetzte — das Ergebnis einer materiellen Daseinsauffassung ist. Der Glaube an die Materie und an eine geheimnisvolle Macht, die sowohl gut wie böse ist, bringt alle Furcht und alles Leid hervor. Diese mentale Haltung gibt den Menschen ein Gefühl der Hilflosigkeit und Sterblichkeit.
Die Ansprüche des sterblichen Gemüts mögen millionenfach geglaubt und hingenommen werden; da sie sich jedoch nicht auf Gott, das unwandelbare Gute, berufen können, sind sie in den Tatsachen des Seins nicht eingeschlossen. Diese Wahrheit muß klar erkannt werden. Die Christliche Wissenschaft fällt ein kompromißloses Urteil über alle Erscheinungsformen des Irrtums, indem sie mit den Worten Christi Jesu erklärt: „.. . die Wahrheit ist nicht in ihm. Wenn er die Lüge redet, so redet er von seinem Eigenen; denn er ist ein Lügner und ein Vater derselben“ (Joh. 8:44).
Der verlorene Sohn stellte einen Menschen dar, der von dem Elend der Sinne umgeben ist, ohne Kenntnis der in den Worten Jesu enthaltenen Wahrheit. Auch heute wissen die Menschen, die die Offenbarung der Christlichen Wissenschaft nicht haben, wenig oder gar nichts von der trügerischen Natur der sie bedrängenden Übel. Wie kann der Sünder oder der leidende Mensch zu der Erkenntnis von der Unwirklichkeit des Irrtums kommen, und wie kann er dazu gebracht werden, wie der verlorene Sohn zu sagen: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen“?
Gemäß der Christlichen Wissenschaft sind die Last des Leidens und die Trugvorstellungen der Sünde oft genug der Anlaß zur Selbstbesinnung und zu einem Sich-Umschauen nach einem Ausweg.
Auf Seite 322 des Buches „Wissenschaft und Gesundheit“ lesen wir: „Die harten Erfahrungen der Annahme von dem angeblichen Leben der Materie, wie auch unsre Enttäuschungen und unser unaufhörliches Weh, treiben uns wie müde Kinder in die Arme der göttlichen Liebe. Dann fangen wir an das Leben in der göttlichen Wissenschaft zu begreifen., Meinst du, daß du wissest, was Gott weiß‘, ohne diesen Entwöhnungsprozeß?“
Während des gegenwärtigen ereignisreichen Stadiums der menschlichen Erfahrung ist es angebracht, daß der Christliche Wissenschafter sich aufmacht und dem Wahrheitssucher entgegengeht, wie der Vater dem verlorenen Sohn entgegenlief, als dieser „noch ferne von dannen war“, und ihn hineingeleitet in des himmlischen Vaters Haus, in das Bewußtsein der Wahrheit und Liebe. In solch einer Stunde mögen wohl die folgenden Worte aus der Heiligen Schrift den zögernden Mut neu beleben: „Wenn eure Sünde gleich blutrot ist, soll sie doch schneeweiß werden; und wenn sie gleich ist wie Scharlach, soll sie doch wie Wolle werden“ (Jes. 1:18). Was für eine Sprache! Kein Wort der Verurteilung oder des Vorwurfs; weder Härte noch Kälte tut sich in diesen Worten kund, vielmehr sind es Worte des Erbarmens und der Hilfsbereitschaft. Ist das nicht die Sprache, die im Dunkel der Sünde und der Not und beim ersten scheuen Blick nach oben gehört wird?
Mrs. Eddy, deren Liebe zu Gott und den Menschen keine Grenzen kannte, wußte von der erlösenden Macht selbstloser Liebe, die das Leid auslöscht, wie das Licht die Finsternis vertreibt. In allen ihren Werken weist sie eindringlich auf die Notwendigkeit hin, dem ringenden Herzen ein Verständnis von der Liebe Gottes zum Menschen zu vermitteln.
Die beispiellose Art und Weise, in der unsere Führerin die göttliche Liebe in ihrer Anwendung auf menschliche Nöte widerspiegelte, mag aus den folgenden Worten entnommen werden: „Die Lahmen, die Tauben, die Stummen, die Blinden, die Kranken, die Sinnlichen und die Sünder, sie alle wollte ich aus der Sklaverei ihrer eignen Annahmen und aus den Erziehungssystemen der Pharaonen erretten, die heute wie vor alters die Kinder Israel im Frondienst halten. Ich sah vor mir den furchtbaren Kampf, das Rote Meer und die Wüste; aber durch den Glauben an Gott drang ich vorwärts und vertraute auf die Wahrheit, die starke Befreierin, daß sie mich in das Land der Christlichen Wissenschaft führe, wo die Fesseln fallen und die Rechte des Menschen völlig erkannt und anerkannt werden“ (Wissenschaft und Gesundheit, S. 226).
Auch heute reift an manchen Orten in der Stille der Abgeschlossenheit der feierliche Entschluß: „Ich will mich aufmachen und zu meinem Vater gehen.“ Es ist unser Vorrecht und unsere höchste Pflicht, diese stummen Äußerungen der nach Gott verlangenden Herzen zu beachten und ihnen den Weg zu weisen. Liebevolle Hilfsbereitschaft, gepaart mit dem christlich-wissenschaftlichen Verständnis von des Menschen Einssein mit Gott als Seiner Idee wird das Ohr und das Herz des Leidenden gewinnen. Der ganze Reichtum der Wahrheit und Liebe erwartet ihn. Im Buch des Propheten Jesaja lesen wir (43:1, 4): „Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst; ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein!. .. Weil du so wert bist vor meinen Augen geachtet, mußt du auch herrlich sein, und ich habe dich lieb.“
Der Mensch ist kein verlorener Sohn. Er ist das gesegnete Kind Gottes, die Widerspiegelung des göttlichen Wesens und der göttlichen Natur. Wenn wir diese Wahrheit verstehen und ihre Demonstration zu unserer Lebensaufgabe machen, werden wir glücklich und frei sein.
