Unter den Fragen, die sich ein Christlicher Wissenschafter häufig stellen muß, gibt es wohl nur wenige, die wichtiger sind als die, die den Titel dieses Leitartikels bildet. Von der Wachsamkeit, mit der wir uns diese Frage stellen, sowie von der Klarheit und Aufrichtigkeit unserer Antwort hängt die rechte Lösung für jede Situation ab, ja die harmonische Entfaltung jedes Abschnitts unseres Lebens.
Im menschlichen Gemüt findet ein ständiges Kommen und Gehen von Gedanken statt. Ihre Argumente sind dazu angetan, uns auf verschiedene Weise zu beeinflussen; sie versuchen und drängen uns mit ihren Versprechungen, oder sie entmutigen uns mit ihren Drohungen und schüchtern uns ein. Viele dieser Gedanken sind nichts als Suggestionen des materiellen Sinnes, der allgemeinen menschlichen Annahme; sie lediglich vom Standpunkt des endlichen menschlichen Gemüts aus zu wägen heißt ihrem Einfluß nachgeben und sich ihnen so unterwerfen. Durch die Offenbarung, daß Gott unendliches Gemüt oder göttliches Prinzip, die eine Quelle aller Wahrheit ist, hat die Christliche Wissenschaft [Christian Science] einen unfehlbaren Prüfstein aufgerichtet, an dem wir göttliche Ideen, die uns gehören, damit wir sie benutzen, von täuschenden sterblichen Annahmen unterscheiden können, die boshafte Eindringlinge sind.
Die göttliche Wissenschaft, die von dem geistigen Standpunkt des Christus, der Wahrheit, ausgeht und erkennt, daß die Auseinandersetzung zwischen Gottes Ideen und deren Fälschungen im sogenannten menschlichen Bewußtsein stattfindet, lehrt, daß wir das, was unsere eigenen Gedanken oder Impulse zu sein scheinen, unablässig einer sorgfältigen Prüfung unterziehen müssen. Wir tun das, indem wir uns fragen: Ist das wirklich mein Gedanke? Ist er von Gott zu mir gekommen, dem unendlich weisen und guten Gemüt, das widerzuspiegeln ich die Macht habe, oder stellt er lediglich die Reaktion des sterblichen Gemüts auf eine Forderung oder Situation dar? Ist das der leitende Gedanke der göttlichen Wahrheit und Liebe, oder ist es die Suggestion des kurzsichtigen, furchtsamen und mit sich selbst beschäftigten fleischlichen Gemüts?
Wir müssen daran denken, daß diese Fragen nicht von einem materiellen Standpunkt aus beantwortet werden können, so vernünftig oder eindringlich der sterbliche Sinn der Dinge auch erscheinen mag. Grundlegend für eine richtige Antwort ist das geistige Verständnis von dem Christus — von der wahren Natur Gottes und des Menschen —, das die Christliche Wissenschaft [Christian Science] verleiht. Der Christus zeigt uns, daß die materielle Auffassung vom Menschen als einer wandelnden Form aus Fleisch, Blut und Knochen völlig unwahr ist, daß sie der Wesenskern der boshaften Suggestion von lebendiger, intelligenter Materie ist, die eine ihr angeborene fleischliche Natur enthält.
Die Wissenschaft des Christus lehrt und beweist, daß der Mensch ein völlig geistiges Wesen ist, ein individuelles Bewußtsein, das als die unsterbliche Widerspiegelung oder das Gleichnis Gottes, des göttlichen Gemüts, in ständigem Einssein mit seinem Schöpfer lebt. Das Zugeständnis, daß der Mensch sowohl geistig als auch materiell ist oder daß er jetzt ein Sterblicher ist, aber später einmal unsterblich werden wird, hat keinen Platz in der wahren Erklärung, die die Christliche Wissenschaft [Christian Science] vom Menschen gibt: das Kind, oder die Kundwerdung, Gottes.
Da der Mensch von dem Schöpfer, seinem Alles-in-allem, ständig erhalten, geleitet und dadurch beschützt wird, können wir in unserem wahren Sein keine Suggestion beherbergen, keiner Suggestion glauben, noch können wir auf irgendeinen Impuls der Materialität reagieren, denn wir haben — und das ist eine selbstverständliche wissenschaftliche Tatsache — sowohl den gottgegebenen geistigen Sinn, die Wahrheit zu erkennen, als auch die völlige Bereitwilligkeit, in ihr zu beharren. Das ist unser wahrer Charakter, das Vorbild, dem wir uns im täglichen Leben angleichen müssen.
Wie können wir in jeder Situation die immergegenwärtigen Ideen Gottes von den sterblichen, materiellen Suggestionen unterscheiden, die liebevolle, weise Leitung unseres allwissenden Vater-Mutter Gemüts von den Einflüsterungen des Irrtums?
Als erstes, indem wir wachsam sind und beachten, daß der Versucher — das sterbliche Gemüt, der eigentliche Ausgangspunkt aller falschen mentalen Praxis — der Wahrheit stets dicht auf den Fersen ist, um uns zu verwirren und irrezuleiten. Ferner, indem wir uns voller Zuversicht vergegenwärtigen, daß wir diese Bemühungen des Irrtums dadurch vereiteln können, daß wir jedes zwingende Verlangen, jede Furcht vor dem Bösen, jeden Zweifel am Guten einer wissenschaftlichen Prüfung unterziehen, und zwar unverzüglich, noch ehe der Übereifer oder die Befürchtungen der menschlichen Natur uns zu falschen Handlungen drängen können. Und vor allem müssen wir in dem aufrichtigen geistigen Entschluß beharren, ausgeprägte persönliche Wünsche dem Urteilsspruch der göttlichen Liebe zu unterwerfen, denn nur auf diese Weise können wir Gottes Stimme hören und uns Seiner Führung anvertrauen. Je weniger wir in den Begrenzungen und Forderungen der materiellen Selbstheit gefangen sind, um so schneller und um so gewisser werden wir imstande sein, die Ideen Gottes zu identifizieren.
Gleichzeitig werden wir in der Lage sein, den zügellosen menschlichen Willen zu identifizieren und ihm zu widerstehen, den Impuls für die gedankenlose scharfe Erwiderung zurückzuweisen, sowohl leichtem Gekränktsein als auch dem niederdrückenden Gefühl des Selbstbedauerns vorzubeugen, und wir werden imstande sein, den Druck des persönlichen Ehrgeizes mit seinem Verlangen nach Anerkennung unwirksam zu machen.
Unsere Führerin Mrs. Eddy bezeichnet diese beständige wachsame Überprüfung des Denkens als die „Anatomie der Christlichen Wissenschaft“ und schreibt (Wissenschaft und Gesundheit, S. 462): „Geistig aufgefaßt ist Anatomie mentale Selbsterkenntnis und besteht in der Zergliederung der Gedanken, um deren Qualität, Quantität und Ursprung zu entdecken. Sind die Gedanken göttlich oder menschlich? Das ist die wichtige Frage. Dieser Zweig des Studiums ist für die Ausrottung des Irrtums unerläßlich. Die Anatomie der Christlichen Wissenschaft lehrt, wann und wie die selbstbeigebrachten Wunden der Selbstsucht, der Bosheit, des Neides und des Hasses sondiert werden müssen. Sie lehrt die Beherrschung wahnwitzigen Ehrgeizes, sie offenbart die geheiligten Einflüsse der Selbstlosigkeit, der Menschenliebe und der geistigen Liebe. Sie spornt zur Beherrschung des Körpers an, in Gesundheit wie in Krankheit.“
Der Apostel Paulus war sich voll bewußt, wie nötig es ist, diese ständige bewußte Kontrolle des Denkens aufrechtzuerhalten; und auch wir müssen uns dies stets vor Augen halten, damit wir uns nicht in eine Handlungsweise verstricken lassen, die unseren wahren Interessen zuwiderläuft. Er warnte seine Nachfolger vor jenem mentalen Zustand des Sich-treiben-Lassens, der dazu angetan ist, sich in eine materielle Gesinnung zu entwickeln, wenn der bewußte Verlaß auf Gottes Leitung fehlt
Er schilderte diesen Gemütszustand und das Heilmittel dafür, als er schrieb (Röm. 7: 19–25): „Das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. .. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von dem Leibe dieses Todes? Ich danke Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!“ Und er fügte hinzu (8:6–14): „Aber fleischlich gesinnt sein ist der Tod, und geistlich gesinnt sein ist Leben und Friede. .. Die aber fleischlich sind, können Gott nicht gefallen. Ihr aber seid nicht fleischlich, sondern geistlich, wenn anders Gottes Geist in euch wohnt. .. Denn welche der Geist Gottes treibt, die sind Gottes Kinder.“
Christus Jesus widerstand mit äußerster Schnelle und Entschlossenheit all den Argumenten des Bösen, die ihn in Versuchung führen wollten, den falschen Leitgedanken des Materialismus zu folgen. Er erklärte (Matth. 4:10): „Hebe dich weg von mir, Satan! denn es steht geschrieben: ‚Du sollst anbeten Gott, deinen Herrn, und ihm allein dienen.‘ “ Dann kamen die Engelsgedanken von Gott „zu ihm und dienten ihm“. Dasselbe werden auch wir erleben, wenn wir lernen, uns konsequent und rasch von den Einflüsterungen des materiellen Sinnes abzuwenden, hin zu dem Verständnis von der Gegenwart der allwissenden, allwirkenden göttlichen Liebe.
Ehrlichkeit Gott gegenüber und Schlichtheit des Glaubens werden uns immer helfen, den Maßstab des Denkens anzulegen, den unsere Führerin uns gegeben hat (The First Church of Christ, Scientist, and Miscellany, S. 213): „Wacht über eure Gedanken und achtet darauf, ob sie euch zu Gott führen und zur Eintracht mit seinen wahren Nachfolgern.“