Im Alten Testament war Mose die beherrschende Gestalt, aber im Neuen ist es Jesus, der Christus. Er war es, der die hebräische Prophezeiung eines Messias oder Erlösers erfüllte und der durch die Begründung des Christentums, das sich auf seine Lehren stützt, eine neue Ära einleitete.
Das Neue Testament, das aus 27 Büchern besteht, wurde hauptsächlich in Griechisch und für eine griechisch sprechende Öffentlichkeit geschrieben. Schon im dritten Jahrhundert v. Chr.— im Anschluß an die Tage Alexanders des Großen — war das Alte Testament aus dem Hebräischen ins Griechische übersetzt worden und war als die Septuaginta bekannt (gewöhnlich durch LXX identifiziert). In den Mittelmeerländern war Griechisch bis weit in das christliche Zeitalter hinein die Sprache für Handel und Gewerbe wie auch für Literatur und Kunst. Der Charakter des Griechischen im Neuen Testament war nicht klassisch oder formell, sondern war, was als Koine bekannt wurde, was soviel wie „Umgangssprache“ bedeutet. Diese Form des Griechischen war den Landsleuten Jesu in Palästina wie auch den Menschen in den umliegenden Gebieten vertraut. Griechisch sprechende Juden waren besonders zahlreich in und außerhalb der Stadt Alexandria in Ägypten.
Die Juden Palästinas und der Diaspora — diejenigen, die in andere Länder zerstreut waren — konnten auch Aramäisch sprechen und taten es oft; das ist ein semitischer Dialekt des Hebräischen, obwohl die offizielle religiöse Sprache der Juden weiterhin Hebräisch war. Man kann sagen, daß das Aramäische in gleicher Beziehung zu dem formelleren Hebräisch steht wie die Koine zu dem klassischen Griechisch.
Die Septuaginta hat fraglos die Verbreitung der Lehren des Alten Testaments über erheblich weitere Gebiete als Palästina möglich gemacht, da reiche jüdische Kaufleute sie mit sich brachten wohin sie immer kamen. Somit wurde die Septuaginta die Bibel der griechisch sprechenden Juden und war offenbar für die Verfasser des Neuen Testaments die Quelle ihrer Zitate aus der „Schrift“. Da sie die Lehren einer monotheistischen Religion mit einer langen angesehenen Tradition enthielt, trug sie dazu bei, den Weg für das Christentum zu bahnen, als es sich aus der hebräischen Religion heraushob, die hauptsächlich eine Religion des Ostens war und ihren Blick vielmehr auf das Nationale als auf das Universale gerichtet hielt.
Alexander der Große, ein Schüler Aristoteles', begann etwa drei Jahrhunderte vor der Geburt Jesu das Denken der Welt auf eine Vereinigung von Ost und West vorzubereiten. Nachdem er die zerstreuten und ungeordneten griechischen Stämme in den Jahren 336-335 v. Chr. vereinigt hatte, machte er sich daran, die Welt zu erobern.
In seiner vierzehnjährigen Regierungszeit besiegte er Kleinasien, Ägypten, Palästina und Persien und drang in seinen Eroberungen sogar bis nach Indien vor. Wie bedeutend seine Siege auch waren, so schien sein Hauptziel doch vielmehr die Verbreitung der hellenischen Kultur als bloße Eroberung gewesen zu sein. Daher sind deren Ergebnisse weit bedeutender, denn die Landkarte und die Kultur wie auch die Sprache nahmen das nachhaltige Kennzeichen der Veränderung an. Edward Freeman (Historical Essays, zweiter Band, S. 204) hat von Alexander so treffend gesagt: „Als der Pionier hellenischer Kultur wurde er am Ende der Pionier des Christentums.“ Das griechische Denken begann sich im Osten auszubreiten, während jüdische und andere östliche Ideen durch den zunehmenden Gebrauch des Hellenisch-Griechischen, oder der Koine, mehr und mehr im Westen bekannt wurden
Alexanders Reich wurde unter seine Generale aufgeteilt, Ägypten fiel an Ptolemäus und Syrien schließlich an Seleukus. Dazwischen lag Palästina. Nach Antiochus IV (Epiphanes), dem seleukidischen König Syriens, dessen Verfolgung der Juden die Revolte der Makkabäer 168 v. Chr. in Palästina heraufbeschworen hatte, folgten für die Makkabäer etwa 80 Jahre Unabhängigkeit, in denen sie sehr aktiv waren. Zu dieser Zeit entstanden verschiedene Sekten des Judentums, und sie erwies sich auch als eine Periode fast ununterbrochenen Konfliktes.
Im Jahre 63 v. Chr. nahm Pompejus die Provinz Syrien einschließlich Palästinas für Rom ein, und danach begann sich der Einfluß und die Autorität Roms in Juda schnell auszubreiten.
Unter der römischen Herrschaft kamen die Könige mit dem Namen Herodes an die Macht — Männer mit einer gemischten Ahnenreihe, zum Teil jüdisch und zum Teil edomitisch oder idumäisch —, die praktisch nur Marionetten waren.
Wenn man an das Studium des Neuen Testaments herangeht, sollte man nicht die vielen Einflüsse übersehen, die gegen Ende der Zeit des Alten Testaments in der Welt vorherrschten, denn wenn das Wechselspiel dieser vielen Einflüsse erkannt wird, kommt klarer zum Vorschein, wie groß die Notwendigkeit für eine Heilung der bestehenden moralischen und sozialen Zustände war.
Man kann ohne weiteres sehen, daß dieses kleine Land Palästina, praktisch im Schnittpunkt der Welt, zum turbulenten Schauplatz für die Konflikte der vielen widerstreitenden Gedankenelemente werden mußte. Da gab es die heftige, obgleich unfruchtbare religiöse Inbrunst des Judentums; den Aberglauben, die Mystik und die Zauberei des Orients; den Ehrgeiz in der weltlichen und politischen Macht Roms und die Philosophie und den Ästhetizismus Griechenlands.
Die sich daraus ergebenden Zustände waren alles andere als inspirierend. Wir finden militärische Unterdrückung seitens des römischen Imperiums, unterstüzt durch Besteuerung und Sklaverei, und religiöse Unterdrückung seitens der jüdischen Orthodoxie wie auch Heidentum und zunehmende Anbetung des Kaisers. Inmitten des Luxus scheinen die Armen vernachlässigt und vergessen worden zu sein, während Unsittlichkeit, Korruption, Laster, Okkultismus und Astrologie anscheinend weit und breit in Blüte standen.
Obwohl das Alte Testament nur geringe Spuren griechischen und römischen Einflusses aufweist, sind ähnliche Zustände und Eigenschaften des Denkens von den hebräischen Propheten erkannt worden, die sich wiederholt bemühten, sie zu berichtigen und ihr Volk inmitten des Elends durch die Verheißung, daß es von seinen Lasten erlöst würde, zu trösten und zu stärken.
In Erfüllung solcher Verheißungen von geistiger Hoffnung und Erlösung nahm das Neue Testament, oder der Neue Bund, Gestalt an, um einer geistig hungrigen Welt das Evangelium oder die frohe Botschaft von Heilung, Reinheit und Frieden, die die Propheten vorausgesagt hatten, zu vermitteln.
Obwohl es unmöglich ist, das Neue Testament völlig zu verstehen, ohne seine Beziehung zum Alten Testament zu erkennen, ist es unbedingt wichtig — wenn wir es zu verstehen suchen —, daß seine Identität vom Alten Testament getrennt wird.
Der Leser des Neuen Testaments mag glauben, daß dessen Bücher in chronologischer Reihenfolge gemäß ihrer gegenwärtigen Anordnung in unseren Bibeln geschrieben wurden. Doch obwohl erhebliche Meinungsverschiedenheiten in bezug auf die eindeutige Datierung irgendeines der Bücher des Neuen Testaments bestehen, steht ziemlich genau fest, daß die ersten Bücher einige der Briefe — oder Episteln — des Paulus waren. Erst nachdem diese Briefe in Umlauf gebracht worden waren, erschienen die Evangelien, und zwar in der Reihenfolge Markus, Matthäus, Lukas mit nachfolgender Apostelgeschichte, wohingegen die Offenbarung anscheinend etwa um dieselbe Zeit erschien wie das Johannesevangelium.
Da sich diese Artikelserie weniger mit dem bloßen Wortlaut und den Daten als vielmehr mit der „stetigen Entfaltung des Christus, der Wahrheit, die ganze Heilige Schrift hindurch“ beschäftigt, besteht das Hauptziel darin, der Folge der Ereignisse im Leben Christi Jesu und der hauptsächlichen Charaktere, die an diesem Drama des ersten Jahrhunderts der Christenheit teilhatten, nachzugehen. Die Tatsachen sollen so genau wie möglich in der richtigen Reihenfolge niedergelegt werden; sie werden den verschiedenen Büchern entnommen, ungeachtet der historischen Aufeinanderfolge dieser Quellen.
Der Wert, der dem Neuen Testament und seiner Botschaft schon beinahe zweitausend Jahre beigemessen wird, und die Tatsache, daß es immer noch von einer wartenden Welt aufgenommen wird, wird dadurch bestätigt, daß es als Ganzes oder in seinen Teilen in Hunderte von Sprachen übersetzt wurde und daß viele Menschen bereit sind, sich großen Gefahren auszusetzen — wenn erforderlich, selbst dem Tod —, um seine Botschaft zu sichern und weit und breit kundzutun.
