Christus Jesus hatte seine zwölf Jünger, seine Apostel, ernannt. Matthäus und Lukas berichten über eine Rede, die als die Bergpredigt bekannt ist und hauptsächlich an die zwölf Jünger gerichtet zu sein schien, aber auch von der Menschenmenge mit angehört wurde. Die zwei Berichte sind nicht völlig identisch, doch sie enthalten manche Stellen, die einige Ähnlichkeit aufweisen. Die Version des Matthäus umfaßt die Kapitel 5 bis 7, und die des Lukas, mitunter die Predigt in der Ebene genannt, beginnt im sechsten Kapitel mit Vers 17. Obwohl die beiden Bezeichnungen seit langem benutzt werden, um diesen Teil des Evangeliumsberichts zu beschreiben, stammt keiner von ihnen aus der Bibel.
Einige Gelehrte vertreten die Meinung, daß dies eine Sammlung verschiedener Aussprüche Jesu sei, die um einen Hauptgedanken gruppiert sind, während andere glauben, es sei der Bericht über eine Rede, die er wirklich gehalten hat. In beiden Evangelien haben wir einleitende und abschließende Verse, woraus man schließen könnte, daß die Lehren diese allgemeine Form hatten.
„Da er aber das Volk sah, ging er auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm“ (Matth. 5:1). Es war Brauch, daß sich ein jüdischer Lehrer beim Unterrichten hinsetzte und seine Schüler sich zu seinen Füßen versammelten. Unter denen, die kamen, um den galiläischen Propheten zu hören, befanden sich gewiß viele, die bereits „Jünger“ — im Sinne von Nachfolger — waren, sowie solche, die zusammengekommen waren, um ihn vielleicht zum erstenmal zu hören. „Alles Volk begehrte, ihn anzurühren; denn es ging Kraft von ihm aus und heilte alle“ (Luk. 6:19).
Beide Berichte über diese bemerkenswerte Botschaft erwecken den Eindruck, daß sie für die besondere Unterweisung seiner auserwählten Zwölf gedacht war. Aber auch andere schätzten sie sehr, denn Matthäus berichtet: „[Da] entsetzte sich das Volk über seine Lehre; denn er lehrte mit Vollmacht und nicht wie ihre Schriftgelehrten“ (7:28, 29).
Matthäus spricht in seiner Einleitung davon, daß der Meister „auf einen Berg“ ging, während Lukas sagt (6:17): „Er ging herab mit ihnen und trat auf ein ebenes Feld“, ein Plateau oder eine ebene Stelle. Diejenigen, die glauben, daß sich diese beiden Berichte auf ein einziges Ereignis beziehen, vermuten, daß er die Predigt in Galiläa, irgendwo zwischen Kapernaum und Tiberias, hielt. In diesem Gebiet könnte man leicht einen Berg finden, der auf halber Höhe eine Fläche bildet, die als Ebene beschrieben werden könnte. Der Versuch, diese Stelle genau festzulegen, beeinträchtigt jedoch keineswegs den Begriff eines „Berges“, wenn damit mehr eine Höhe geistiger Inspiration als ein geographischer Punkt gemeint ist.
Die erste Gruppe der Aussprüche, in der jeder Vers mit „Selig“ beginnt, ist von alters her als die Seligpreisungen bekannt. (Das englische Wort für Seligpreisungen ist „Beatitudes“ und stammt von dem lateinischen Wort beatus — glücklich.) Ein tiefes Gefühl der Freude zu haben, innerlich tief glücklich und geistig bereichert zu sein, mag sehr wohl das zum Ausdruck bringen, was mit dem Begriff „selig“, wie er in der Bibel gebraucht wird, gemeint ist.
Im Lukasevangelium haben wir vier Verse, die einigen der Seligpreisungen im Matthäusevangelium sehr ähneln. An diese schließt Lukas vier Aussprüche an, die er im Gegensatz dazu mit „Weh euch“ beginnt (s. 6:20–26).
„Selig sind, die da geistlich arm sind“, so beginnt Matthäus seine Version der Seligpreisungen, „denn das Himmelreich ist ihr.“ Oder nach einer neuen Fassung der englischen Bibel, The New English Bible: „Wie gesegnet die, die wissen, daß sie Gott nötig haben, denn das Himmelreich ist ihr.“ Die danach aufgezählten Segnungen gelten den Leidtragenden, die getröstet werden sollen, den Sanftmütigen, die das Erdreich besitzen werden, denen, die nach der Gerechtigkeit hungert und dürstet und die satt werden sollen. In der neuen englischen Bibel heißt es: „Wie gesegnet sind die Leidtragenden; sie werden Trost finden. Wie gesegnet sind, die sanften Gemütes sind; sie werden die Erde besitzen. Wie gesegnet sind die, die danach hungert und dürstet, den Sieg des Rechten zu sehen; sie sollen befriedigt werden.“ Weitere Segnungen gelten den Barmherzigen, denen, die reines Herzens sind, den Friedfertigen und denen, die um Gerechtigkeit willen verfolgt werden.
Im Alten Testament wurde der negativen Seite des mosaischen Gesetzes und den Verboten großes Gewicht beigelegt. Der Meister betonte in seinen Lehren den positiven Wert rechten Denkens und selbstloser Liebe.
Auf die letzte der Seligpreisungen folgten Worte der Ermunterung und des Vertrauens, die direkt an die Jünger gerichtet waren, um sie auf ihre Arbeit vorzubereiten. Sie waren das Salz (oder das Gewürz) der Erde, ja das Licht der Welt.
Da Christi Jesu Lehre so neu war, machte er es klar, daß er nicht gekommen war, um das Gesetz oder die Propheten aufzulösen; er war gekommen, um ihre höchsten Ideale zu verwirklichen (s. Matth. 5:13―19).
Die Schriftgelehrten und Pharisäer hatten in sklavischem Gehorsam gegen das Gesetz die schlichte Reinheit der Zehn Gebote durch unzählige überlieferte Auslegungen getrübt. In diesen Wirrwarr von Regeln und Vorschriften brachte Jesus eine einfache, direkte Erklärung der dem göttlichen Gesetz zugrundeliegenden Prinzipien. Dieses Gesetz betrachtete er als die Grundlage des Dekalogs.
Dem Gebot: „Du sollst nicht töten“ gab er eine umfassendere Bedeutung durch die zusätzliche Notwendigkeit, den Haß in unserem Herzen zu berichtigen. Das Gebot: „Du sollst nicht ehebrechen“ sollte durch lauteres Denken und Handeln befolgt werden. Der übliche Brauch des Schwörens sollte aufhören und durch ein einfaches „Ja“ oder „Nein“ ersetzt werden (s. Matth. 5:21-37).
Das alte Gesetz, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, sollte durch Barmherzigkeit und Freundlichkeit ersetzt werden (s. Vers 38―42). Man sollte seinen Feind wie auch seinen Nächsten lieben (s. Vers 43-47; Luk. 6:27-36). Der vollkommene Vater würde für jeden das Vorbild und der Ansporn sein, Vollkommenheit zum Ausdruck zu bringen (s. Matth. 5:48).
Ein neuer Standard für das Almosengeben und für das Beten mußte die Prahlerei und Selbstgerechtigkeit der Pharisäer ersetzen. Und in diesem Zusammenhang bringt Matthäus das bemerkenswerte Gebet, das wir als das Gebet des Herrn kennen (s. 6:9-13).
Wenn auch der Abschnitt in Vers 13: „Denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen“, oft Doxologie genannt, nicht in jedem der alten Manuskripte enthalten ist, ändert dies nichts an der schlichten, doch majestätischen Schönheit dieses tief geistigen Gebets.
Ein aufrichtigerer Begriff vom Fasten sollte an die Stelle des öffentlichen, ritualistischen Fastens treten, dessen Einhaltung für die religiösen Führer jener Zeit so wichtig geworden war.
Es mußte erkannt werden, daß es sinnlos ist, besorgt auf materiellen Gewinn bedacht zu sein, und das Ziel des gestig Guten mußte an dessen Stelle gesetzt werden; die menschlichen Bedürfnisse würden mit Sicherheit erfüllt werden (s. Vers 19-34). Sich gegenseitig zu kritisieren und zu verurteilen ist unzulässig (s. 7:1-5). Alle Menschen sollten sich an die goldene Regel halten: „Alles nun, was ihr wollt, daß euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten“ (7:12).
Der Meister erwartete offensichtlich von seinen Nachfolgern, daß sie die strengen und ewig gültigen Grundregeln der Lehre, die er ihnen gegeben hatte, in ihrem täglichen Leben anwandten. Er wußte, daß die göttliche Autorität, auf die sich seine Worte gründeten, seine Nachfolger befähigen würde, die schwersten Prüfungen zu überstehen. „Wer diese meine Rede hört und tut sie, der gleicht einem klugen Mann, der sein Haus auf den Felsen baute“ (Matth. 7:24; s. auch 25-27; Luk. 6:47-49).
Von Christi Jesu Worten, die voll von geistiger Originalität und gesundem Rat waren und mit einer Erklärung schlossen, wie man die Ergebnisse dieser revolutionären Lehre erkennen und auswerten kann, könnte man sagen, daß sie allen seinen Nachfolgern gezeigt haben, was das Himmelreich ausmacht. Er versuchte nie, das Gesetz abzuschaffen. Doch weil er damit so gründlich vertraut war und wußte, wie es durch ständigen Mißbrauch verhüllt und unklar geworden war, kam seine Botschaft zu einer Zeit, wo sie am nötigsten gebraucht wurde. Die in der Bergpredigt enthaltenen Lehren sollten diejenigen mit dem Rüstzeug versehen, die er damit betraute, der Tendenz zu weiterer Heuchelei Einhalt zu gebieten und eine geistige und praktische Religion einzuführen.
