Das 16. Kapitel des Lukasevangeliums beginnt mit einem Gleichnis, das Jesus an seine „Jünger“ richtete — ein Begriff, der nicht unbedingt auf die Apostel begrenzt war. Viele Nachfolger mögen dazu gezählt haben, die noch nicht alles verlassen hatten, um ihm zu folgen, wie die Zwölf es getan hatten.
In diesem Gleichnis ist ein Haushalter, der aus dem Dienst entlassen werden soll, weil er die Güter seines Herrn vergeudete, darauf bedacht, seine eigene Zukunft zu sichern. Die Initiative und Voraussicht des Haushalters, der erkennt, daß er nur für sich selber sorgen kann, wenn er für andere sorgt, werden von seinem reichen Herrn gelobt. Die krummen Methoden, deren sich der Haushalter bedient, werden natürlich nicht gelobt. Die darauffolgenden Worte Jesu machen es klar, daß die Zuverlässigkeit in der Verwaltung der Güter dieser Welt nicht von der Zuverlässigkeit in der Verwaltung des „wahren Gutes“ getrennt werden kann. Und eine zwischen Gott und dem Mammon (oder dem Gold) geteilte Treue ist unzulässig (s. Vers 1—13).
Danach wendet sich Jesus an seine kritischen Zuhörer, die Pharisäer, und rügt die Selbstgerechtigkeit mit den Worten: „Denn was hoch ist unter den Menschen, das ist ein Greuel vor Gott“ (Vers 15). „Das Gesetz und die Propheten“ (wie das Alte Testament genannt wurde) hatte in der Geschichte Israels eine große Rolle gespielt, doch mit Johannes dem Täufer war eine neue Ordnung, das Reich Gottes mit seinen Segnungen, eingeführt worden, und große Menschenmengen wurden davon angezogen. Aber die kleinste Bestimmung im Gesetz konnte nicht ihren Zweck verfehlen noch ihre Wirksamkeit verlieren (s. Vers 16, 17; vgl. Matth. 5:17).
Nach einer kurzen Ermahnung zur Reinheit in der Ehe erzählt Lukas die Geschichte von dem reichen Mann und Lazarus, in der Jesus es klarmacht, daß weltlicher Reichtum und Rang vergängliche Werte sind, auf die wir uns nicht für unsere ewige Erlösung verlassen sollten.
Der „reiche Mann“ wird nicht mit Namen genannt, aber er wird oft unter dem Namen „Dives“ erwähnt, was einfach das lateinische Wort für „ein reicher Mann“ ist. Lazarus der Bettler sollte nicht mit Lazarus von Bethanien, dem Bruder der Martha und Maria, verwechselt werden. „Abrahams Schoß“ bedeutete für die Juden einen wonnevollen Zustand unmittelbar jenseits des Grabes, wo in dem Gleichnis der Arme Trost empfing, während der gefühllos egoistische Dives gepeinigt wurde. „Er rief und sprach: Vater Abraham, erbarme dich mein und sende Lazarus, daß er das Äußerste seines Fingers ins Wasser tauche und kühle meine Zunge.“ Es war jedoch nicht möglich, die große Kluft zwischen den Vorstellungen von Paradies und Hölle zu überbrücken, noch konnte den Brüdern des reichen Mannes eine wirksamere Warnung vor der Zukunft gegeben werden als die, die ihnen bereits erteilt worden war. Das Gleichnis endet mit den von Abraham gesprochenen Worten: „Hören sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie auch nicht glauben, wenn jemand von den Toten aufstünde“ (s. Luk. 16:14—31).
Die nächste Lehre ist für die Jünger gedacht. Er bereitet sie darauf vor, daß sie „Ärgernissen“ begegnen werden (Hindernissen, die einen zu Fall bringen, Versuchungen auf dem Weg), aber sie sollen über ihre mentale Einstellung, vor allem ihre Versöhnlichkeit, wachen. Auf ihre Bitte, Jesus möge ihren Glauben mehren, antwortet er, daß es beim Glauben nicht auf die Menge ankomme; selbst ein Körnchen Glaube hat gewaltige Macht. Auch sollten sie sich nicht enttäuschen oder entmutigen lassen, wenn sie für ihre Bemühungen keinen Lob erhielten, denn Dank sollte nicht notwendig sein, wenn die einem zugeteilten Pflichten richtig ausgeführt wurden. „Wenn ihr alles getan habt, was euch befohlen ist, so sprechet: ... wir haben getan, was wir zu tun schuldig waren“ (s. 17:1—10).
Dem Johannesevangelium entnehmen wir, daß der Meister immer noch in Peräa und vielleicht zwei oder drei Tagereisen von Jerusalem entfernt war, als er von Martha und Maria Nachricht über ihren Bruder Lazarus erhielt: Herr, siehe, den du lieb hast, der liegt krank“ (11:3). Seine augenblickliche Reaktion war, die Unvermeidlichkeit des Todes zu verneinen und das herrliche Ergebnis der Botschaft zu behaupten. „Da Jesus das hörte, sprach er: Diese Krankheit ist nicht zum Tode, sondern zur Verherrlichung Gottes, daß der Sohn Gottes dadurch verherrlicht werde“ (Vers 4). Was auch immer sein Grund war, er wartete zwei Tage, bevor er nach Judäa aufbrach.
Seine Jünger versuchten ihm auszureden, dorthin zu gehen, da sie an die kürzlich von den Judäern gezeigte feindselige Haltung dachten, die ihn steinigen wollten (s. 10: 31–33). Sie waren erleichtert, als er sagte: „Lazarus, unser Freund, schläft“, denn für sie war es ein Zeichen der Genesung ihres Freundes. Aber Jesus sagte frei heraus: „Lazarus ist gestorben; und ich bin froh um euretwillen, daß ich nicht dagewesen bin, auf daß ihr glaubet. Aber lasset uns zu ihm ziehen!“ (Vers 11, 14, 15.) Thomas' Treue zeigte sich in seiner Bereitschaft, ihren Führer selbst bis in den Tod zu begleiten (s. Vers 16).
Als sie in die Gegend von Bethanien kamen, erfuhren sie, daß Lazarus tatsächlich gestorben war und die Beerdigung offenbar sofort stattgefunden hatte, wie es die Gewohnheit war (s. Vers 17, 39). Viele Freunde waren gekommen, sogar von Jerusalem, um die Schwestern zu trösten. Ja, es wird angenommen, daß die Familie des Lazarus wohlhabend war und im Gemeinwesen Ansehen genoß. Der Besitz eines privaten Grabes, die Gäste und deren ruhiges Verhalten wie auch das später gehaltene Mahl und die von Maria verwendete kostbare Salbe (s. 12:1—5) lassen auf solch einen hohen Rang schließen.
„Als Martha nun hörte, daß Jesus kommt, ging sie ihm entgegen; Maria aber blieb daheim sitzen“ (11:20). Der von Martha zum Ausdruck gebrachten Gewißheit, daß er hätte helfen können, wenn er dort gewesen wäre, begegnete er mit der Versicherung: „Dein Bruder wird auferstehen.“ Martha legte diese Worte allgemein aus; sie verstand nicht, daß sie schon jetzt auf ihren Bruder zutrafen. Aber „Jesus spricht zu ihr: Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich glaubt, der wird leben, ob er gleich stürbe; und wer da lebet und glaubet an mich, der wird nimmermehr sterben.“
Nachdem Martha ihn als den verheißenen Christus, den Sohn Gottes, anerkannt hatte, ging sie hin und rief Maria, die ihm eilends entgegenlief. „Jesus aber war noch nicht in das Dorf gekommen, sondern war noch an dem Ort, da ihm Martha entgegengekommen war“, und alle, die bei Maria im Hause geblieben waren, folgten ihr, da sie glaubten, sie würde zum Grab gehen, um dort zu weinen. Aber sie ging Jesus entgegen, fiel ihm zu Füßen und wiederholte teilweise, was Martha gesagt hatte: „Herr, wärest du hier gewesen, mein Bruder wäre nicht gestorben.“
Der gesamte Bericht von der Auferweckung des Lazarus (s. 11:1—46) scheint von einem Augenzeugen zu stammen, und obwohl er ein sorgfältiges Studium verdient, bedarf es wohl kaum weiterer ins einzelne gehender Ausführungen. Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts schrieb William Sanday bezüglich dieses bedeutenden Ereignisses: „Für uns läßt sich die Auferweckung der Toten nicht mit den anderen Wundern vergleichen, sie steht für sich als beispiellos und unglaubhaft. Als die Evangelien geschrieben wurden, betrachtete man die Auferweckung jedoch nicht so. .. In den synoptischen Evangelien werden in der Antwort, die Jesus den Jüngern des Johannes gibt [s. Matth. 11:5], die verschiedenen Wunder nebeneinander erwähnt, ohne daß die Auferweckung der Toten besonders herausgestellt wird“ (Authorship and Historical Character of the Fourth Gospel, S. 186).
Nach seinen anderen bemerkenswerten Werken konnte die Auferweckung des Lazarus von der jüdischen Obrigkeit nicht ignoriert werden. Sie konnte Jesus leicht eine solche Schar von Nachfolgern zuführen, daß es die Aufmerksamkeit der Römer auf sich ziehen und schlimme Folgen haben könnte. Und so war es, um ihre eigene Stellung zu sichern, „von dem Tage an ... für sie beschlossen, daß sie ihn töteten. Jesus aber wandelte nicht mehr öffentlich unter den Juden.“ Er zog sich mit seinen Jüngern in ein Gebiet nordöstlich von Jerusalem zurück, „in eine Gegend nahe bei der Wüste, in eine Stadt, genannt Ephraim“ (s. Joh. 11:47—54).
