Wie Matthäus und Markus berichten, sangen die Apostel gemeinsam ein Lied, ehe sie nach dem Passahmahl das Obergemach verließen. Die Gelehrten stimmen darin überein, daß zumindest ein Teil des Hallel, Psalm 113 bis 118, zu dem „Lobgesang“ gehörte — traditionsgemäß wird das Hallel mit der Passahfeier in Verbindung gebracht.
Hier gibt Johannes die inspirierte Rede unseres Meisters über geistige Einheit wieder (15:1 bis 16:33). Im Weinstock, den Reben und der Frucht fand er ein praktisches Beispiel für die wichtige Einheit mit Gott, die er so beständig zum Ausdruck brachte. Einige haben geglaubt, daß der Anblick der Weinberge, die an dem aus der Stadt zum Ölberg führenden Weg lagen, ihm die Anregung zu diesem Gleichnis gaben.
Am Anfang seiner Rede (s. 15:1–11) legt Jesus die herrliche Möglichkeit dar, die sich ihnen unter der Fürsorge des Vaters durch jene zwischen ihm und seinen Jüngern bestehende geistige Einheit bietet. „Ich bin der rechte Weinstock, und mein Vater der Weingärtner... Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ Hier spricht er von „dem rechten Weinstock“, wie er vom „rechten Brot vom Himmel“ (6:32) gesprochen hat und wie Johannes früher einmal „das wahrhaftige Licht“ (1:9) erwähnt hat — das geistig vollkommene, das Echte und Ideale.
Dann weist er seine Jünger darauf hin, wie wichtig es ist, daß sie einander selbstlos lieben (s. 15:12–17). Er sagte: „Niemand hat größere Liebe denn die, daß er sein Leben läßt für seine Freunde.“ Er hatte seine Jünger nicht als Knechte, sondern als Freunde geliebt, die er persönlich auserwählt und ordiniert (ernannt) hatte, damit sie in die Welt hinausgingen und etwas leisteten, Frucht hervorbrächten, die beständig ist, so daß ihnen alles, was sie in seinem Namen vom Vater erbäten, gewährt würde. Er gebot ihnen, einander zu lieben, wie er sie geliebt hatte.
In labhaftem Gegensatz zu der Liebe und Einheit zwischen Jesus und seinen Jüngern — und unter den Jüngern selbst — stehen die Feindseligkeiten und der Haß, die die Welt ihnen entgegenbrachte (s. Vers 18–25). Doch sie sollten wissen, daß die Welt ihn vor ihnen gehaßt hatte, und überdies, so sagte er, würde die Welt sie lieben, wenn sie zu der Welt gehörten, aber sie gehörten ihr nicht an und würden von ihr gehaßt werden. Da sie von ihm erwählt worden waren, die weltlichen Wege hinter sich zu lassen, um bei ihm zu sein, müßten sie mit Verfolgung rechnen. „Der Knecht ist nicht größer als sein Herr. Haben sie mich verfolgt, so werden sie euch auch verfolgen; haben sie mein Wort gehalten, so werden sie eures auch halten.“ Wäre er nicht gekommen, um die Menschen aufzurütteln und das zu vollbringen, was noch kein Mensch getan hatte, wäre die Welt nicht der Sünde schuldig geworden, daß sie ihn — und den Vater — „ohne Ursache“ haßten (Vers 25; vgl. Ps. 35:19; 69:5). Wenn jedoch der verheißene Tröster, „der Geist der Wahrheit“, kommen würde, den er von dem Vater schicken würde, würde er von ihm zeugen, wie sie selbst von ihm zeugen würden, da sie während seiner gesamten Tätigkeit bei ihm gewesen waren (Vers 26, 27).
Im 16. Kapitel setzt Johannes seinen Bericht darüber fort, wie der Meister sie auf die bevorstehende schwere Zeit und auf seinen herannahenden Tod vorbereitete. Außer den Warnungen vor der Gefahr und der Verfolgung erwähnte nun Jesus noch einen anderen Punkt. Seine persönliche Gegenwart mußte der ewigen geistigen Gegenwart weichen; auf diese geistige Gegenwart mußten sich seine Nachfolger verlassen, wenn sie die volle geistige Reife erreichen wollten. Mit seinen Worten: „Ich sage euch die Wahrheit: es ist euch gut, daß ich hingehe. Denn wenn ich nicht hingehe, so kommt der Tröster nicht zu euch. Wenn ich aber gehe, will ich ihn zu euch senden“ (Vers 7). Der Tröster wird die Aufgabe haben, die Welt von der Sünde, der Gerechtigkeit und dem Gericht zu überzeugen — das Bewußtsein der Welt zu erwecken, damit sie deren wahre Bedeutung erkennt. Der Tröster wird die Menschheit in alle Wahrheit leiten, wird zukünftige Dinge vorhersagen sowie Jesu eigenes großes Werk verherrlichen und verständlich machen (s. Vers 8–15).
Er wußte, daß sich die Jünger über ihre Trennung unterhielten, und so sagte er ihnen nochmals das Leiden und die Traurigkeit voraus. Er verglich diese Zeit mit der Geburt eines Kindes, wo sich die Wehen in Freude verwandeln, sobald das Kind geboren ist. „Ihr habt nun Traurigkeit; aber ich will euch wiedersehen, und euer Herz soll sich freuen, und eure Freude soll niemand von euch nehmen... Bittet, so werdet ihr nehmen, daß eure Freude vollkommen sei“, sagte er (s. Vers 17–24).
Bis jetzt hatte er sich hauptsächlich solcher Redewendungen bedient, die einer Erklärung bedurften, doch offenbar verstanden seine Jünger nun seine Botschaft. Nachdem er erneut seine Verbundenheit mit dem Vater erklärt hatte, beschloß er seine Rede mit folgenden Worten des Sieges: „Seid getrost, ich habe die Welt überwunden“ (Vers 33).
Im 17. Kapitel hat Johannes das wunderbare Gebet des Meisters niedergeschrieben, das einige Gelehrte als sein hohepriesterliches Gebet beschreiben (s. die Entwicklung dieses Gedankens im Brief an die Hebräer, z. B. 2:17; 3:1; 4:14; 9:11–14), in dem er sich selbst heiligt, damit auch seine Nachfolger geheiligt seien. Wo auch immer dieses Gebet gesprochen wurde, im Obergemach nach dem Abendmahl, im Vorhof des Tempels oder sonstwo auf dem Weg nach Gethsemane, es ist ein Gebet der Erfüllung und Fürbitte — für Jesus selbst (Vers 1–5), für den Schutz der Apostel (Vers 6–9) und für die geistige Einheit aller seiner Nachfolger, einschließlich derer, die noch kommen würden, auf daß die Liebe des Vaters in ihnen sei, wie sie ihm selbst zuteil geworden war (Vers 20–26).
Johannes fährt fort: „Da Jesus solches geredet hatte, ging er hinaus mit seinen Jüngern über den Bach Kidron; da war ein Garten, darein ging Jesus und seine Jünger“ (18:1).
Als er Gethsemane (es wird allgemein angenommen, daß es „Ölkelter“ bedeutet) erreichte, bat er acht seiner Jünger, zurückzubleiben und auf ihn zu warten, während er mit Petrus, Jakobus und Johannes vorausging, um zu beten. Diese drei hatten bereits bei früheren Gelegenheiten von besonderer Bedeutung das Vorrecht, mit ihm zusammen zu sein — bei der Auferweckung der Tochter des Jairus und bei der Verklärung. Jesus wies sie nun an, Wache zu halten. Matthäus schreibt: „Da sprach Jesus zu ihnen: Meine Seele ist betrübt bis an den Tod; bleibet hier und wachet mit mir! Und er ging hin ein wenig, fiel nieder auf sein Angesicht und betete und sprach: Mein Vater, ist's möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber; doch nicht wie ich will, sondern wie du willst!“ (Siehe 26:36–39; vgl. Mark. 14:32–36; Luk. 22:40–42).
Als er diese Bereitwilligkeit zum Ausdruck brachte, „erschien ihm... ein Engel vom Himmel und stärkte ihn“, wie Lukas berichtet. Doch in seiner Seelenqual betete er noch inbrünstiger; Lukas sagt: „Es ward aber sein Schweiß wie Blutstropfen, die fielen auf die Erde“ (Vers 43, 44).
Als er nach diesem Erlebnis zu Petrus, Jakobus und Johannes zurückkam, fand er sie in tiefem Schlaf. Konnten sie nicht eine Stunde mit ihm wachen? Doch selbst in diesem Augenblick großer seelischer Belastung und bitterer Enttäuschung zeigte sich sein zärtliches Erbarmen, denn er fügte hinzu: „Der Geist ist willig; aber das Fleisch ist schwach“ (Matth. 26:41; vgl. Mark. 14:38). Ein zweites und sogar ein drittes Mal entfernte sich der Meister ein wenig von ihnen und betete. Obwohl er sie wiederholt aufforderte, zu wachen und zu beten, fand er sie schlafend, „denn ihre Augen waren voll Schlafs... Und er kam zum dritten Mal und sprach zu ihnen: Ach, wollt ihr nun schlafen und ruhen? Es ist genug; die Stunde ist gekommen. Siehe, des Menschen Sohn wird überantwortet in der Sünder Hände. Stehet auf, laßt uns gehen! Siehe, der mich verrät, ist nahe“ (Mark. 14:37–42; vgl. Matth. 26:40–46).