Sind sich Paulus und Jesus jemals begegnet?
Wir wissen, daß es Jesu Gewohnheit war, an den großen religiösen Festen in Jerusalem teilzunehmen, und Saulus, als ein Pharisäer, der dort studiert hatte, würde ihnen gewiß ebenfalls beiwohnen, selbst wenn dies bedeutete, daß er von Tarsus bis nach Jerusalem reisen mußte. Man kann also annehmen, daß beide mehrere Male zur selben Zeit in der Stadt waren. Doch selbst nachdem der Meister zu predigen begonnen hatte, wäre es natürlich gewesen, wenn ein eifriger Pharisäer kein Interesse für einen Menschen gezeigt hätte, den er einfach für einen unbedeutenden galiläischen Zimmermann hielt, der, wie es andere schon getan hatten und noch tun würden, behauptete, der verheißene Messias zu sein (s. Matth. 24:5, 24).
Beim Lesen seiner Briefe stellen wir fest, daß Paulus sich auf die Tatsache berief, daß er Christus Jesus „gesehen“ habe (1. Kor. 9:1), doch offenbar dachte er in diesem Falle an das berühmte Ereignis auf der Straße nach Damaskus lange Zeit nach der Himmelfahrt. Selbst als er sagte: „Ob wir auch Christus früher nach fleischlicher Weise erkannt haben, so erkennen wir ihn doch jetzt so nicht mehr“ (2. Kor. 5:16), war es kein Beweis dafür, daß er Jesus vor dessen Kreuzigung persönlich gekannt hatte, denn aus dem Zusammenhang scheint klar hervorzugehen, daß der Satz: „Ob wir auch Christus früher nach fleischlicher Weise erkannt haben“ nicht streng wörtlich genommen werden sollte. In Korinth und zweifellos in anderen Orten gab es Menschen, die Paulus’ Apostelamt in Frage stellten, und wenn er einer von denen gewesen wäre, die Jesus während seines Wirkens gekannt hatten, hätte er wohl kaum solch einen wichtigen Punkt zu seiner Verteidigung auslassen können. Paulus aber behauptete nicht, die mächtigen Werke des Messias gesehen oder von Jesu Lippen selbst die Botschaft der Erlösung vernommen zu haben. Paulus war tatsächlich von der Glaubwürdigkeit seines Evangeliums überzeugt, doch er hatte es nicht auf diese Weise empfangen. „Das Evangelium, das von mir gepredigt ist, [ist] nicht menschlicher Art. .. Denn ich habe es von keinem Menschen empfangen noch gelernt, sondern durch eine Offenbarung Jesu Christi“ (Gal. 1:11, 12).
Es besteht wohl kaum ein Zweifel, daß Saulus, ob er nun in Jerusalem war oder nicht, als Jesus gekreuzigt wurde, bald die Neuigkeit erfuhr und wie die anderen Pharisäer davon überzeugt war, daß er die Strafe verdient habe und daß sie nun, wo ihr Führer getötet worden war, keine Schwierigkeiten mehr mit den Jüngern des Nazareners haben würden. Doch die Hohenpriester und Pharisäer wollten nichts riskieren. Sie hatten gehört, daß Jesus prophezeit hatte, er werde am dritten Tage von den Toten auferstehen, und daher überredeten sie Pilatus, das Grab versiegeln zu lassen und Männer zu ernennen, die es bewachen sollten, „auf daß nicht seine Jünger kommen und stehlen ihn und sagen zum Volk: Er ist auferstanden von den Toten“ (s. Matth. 27:62–64; vgl. 16:21).
Aber alle ihre sorgfältigen Vorsichtsmaßnahmen waren umsonst, denn nach drei Tagen trat das ein, was sie befürchtet hatten. Jesus war tatsächlich auferstanden, und die Verzweiflung der Jünger war der Hoffnung und Freude gewichen. Darauf folgten die denkwürdigen Ereignisse, die der Himmelfahrt vorangingen — er erschien der Maria im Garten, der Gang nach Emmaus, die Zusammenkunft mit den elf treuen Jüngern in Jerusalem, das Mahl am Ufer des Galiläischen Meeres und vor allem der Befehl, daß die Jünger in Jerusalem bleiben und auf die Taufe durch den heiligen Geist warten sollten. Wie sehnsüchtig müssen sie auf die Erfüllung dieser großen Verheißung gewartet haben, die sie in ihr Amt als Zeugen „zu Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und bis an das Ende der Erde“ (Apg. 1:8) einsetzen würde.
Wie wir in der Apostelgeschichte erfahren (1:3), lagen 40 Tage zwischen der Auferstehung und der Himmelfahrt, und zehn Tage später, am Pfingstfest, erfüllten sich die Hoffnungen der Jünger. Wie aus der lebhaften Beschreibung des Ereignisses hervorgeht, war es um die dritte Stunde — ungefähr neun Uhr morgens —, wo die Christen „alle beieinander an einem Ort“ waren. Als das Ergebnis eines geistigen Erlebnisses, das der Verfasser Lukas mit den Begriffen von Wind und Feuer zu beschreiben sucht, wurden sie „alle voll des heiligen Geistes und fingen an zu predigen in anderen Zungen, wie der Geist ihnen gab auszusprechen“, so daß die Leute aus vielen Ländern sie verstehen konnten (s. 2:1–11). Dann wurden durch die bewegende Rede des Petrus über die Auferstehung und Erhöhung Christi Jesu und über die Notwendigkeit, Buße zu tun, nicht weniger als 3.000 Menschen getauft und zu der Zahl der Christen hinzugetan (s. 2:14–41). Offenbar ließen diese sich nicht einfach von der Begeisterung des Augenblicks hinreißen, denn wir lesen (V. 42): „Sie blieben aber beständig in der Apostel Lehre und in der Gemeinschaft und im Brotbrechen und im Gebet.“
Ungefähr in dieselbe Zeit fallen die Hinweise auf viele Zeichen und Wunder, die die Jünger vollbrachten, vor allem die Heilung des Mannes, der von Geburt an lahm gewesen war, und auch diejenigen, die krank und, wie die Bibel sagt, von unsaubern Geistern gepeinigt waren, wurden geheilt. „Eine Menge Männer und Frauen“ nahmen eifrig die neue Lehre an (5:14; vgl. 4:4).
Es ist klar, daß die jüdische Obrigkeit es sich nicht länger leisten konnte, sich über die neue Bewegung lustig zu machen oder sie einfach zu ignorieren. Zuvor mußte sie den Anschein erweckt haben, nichts weiter als eine unbedeutende lokale Sekte zu sein, an deren Spitze ein unbekannter Galiläer stand, der seine Vermessenheit mit der schwersten Strafe bezahlt hatte. Nun breitete sie sich schnell aus; selbst eine beachtliche Anzahl derer, die der altehrwürdigen jüdischen Priesterschaft angehörten, bekehrten sich zu der neuen Religion (s. 6:7; vgl. Joh. 12:42).
Es mußte offensichtlich gewesen sein, daß etwas unternommen werden mußte, und zwar schnell, wenn die Sadduzäer und Pharisäer ihre Autorität nicht verlieren wollten. Anscheinend taten die Sadduzäer den ersten Schritt. Der Hauptgrund ihrer Einwände war, daß die Jünger die Auferstehung predigten, eine Lehre, die die Sadduzäer ablehnten (s. Luk. 20:27; vgl. Apg. 23:8). Sie setzten daher Petrus und Johannes gefangen, waren aber bald gezwungen, sie wieder freizulassen, weil das Volk sich für sie einsetzte (s. Apg. 4:1–3, 21).
Ein wenig später ergriffen die Sadduzäer wieder die Initiative und warfen die Apostel ins Gefängnis, weil sie weiterhin, entgegen ihren Befehlen, gepredigt hatten; dieses Mal, so lesen wir, wurden die Apostel durch das Eingreifen eines Engels befreit; der „tat in der Nacht die Türen des Gefängnisses auf und führte sie heraus“ (5:17–20).
Am folgenden Morgen wurden Petrus und die anderen, als sie im Tempel lehrten, wieder gefangengenommen und vor eine Versammlung des Sanhedrins gebracht (s. V. 25–27). Ob sich nun Saulus unter den Männern befand oder nicht, die gerade über jene Apostel zu Gericht saßen, zu denen auch er innerhalb kurzer Zeit zählen sollte, sein Lehrer Gamaliel war anwesend, denn es war dort, daß er seine berühmte Rede hielt, in der er sich für Besonnenheit und Mäßigung einsetzte, wohingegen die anderen beabsichtigten, die Jünger zu töten (s. V. 34–39). Sollte Saulus tatsächlich dagewesen sein, mußte er sich in einer peinlichen Lage befunden haben — hin und her gerissen zwischen dem Eifer, sie zu verfolgen, und der Treue gegenüber seinem großen Lehrer. Wie wir wissen, befolgten die übrigen Mitglieder des Sanhedrins den Rat Gamaliels (s. V. 40). Nachdem den Jüngern befohlen worden war, nicht mehr in dem Namen Jesu zu sprechen, wurden sie geschlagen und freigelassen.
Diese scheinbare Mäßigung war nichts weiter als die Stille vor dem drohenden Sturm erbarmungsloser Verfolgung.