Über den Wert oder Unwert von Kritik (insbesondere persönlicher Kritik) bestehen verschiedene Ansichten, und man kann oft Unsicherheit in dieser Frage feststellen. Recht häufig ist zu hören: „Ich will ja nicht kritisieren, aber ...“ Und dann wird gesagt, was und warum dies oder jenes nicht richtig und nicht zu dulden sei. Hier scheint Kritik mit einem schlechten Gewissen verbunden zu sein.
Sollte man niemals Kritik üben? Es mag jemand fragen: Fordert die Christliche Wissenschaft kritisches Denken oder den Verzicht auf jegliche Kritik, was mit Kritiklosigkeit gleichzusetzen wäre? Was versteht man eigentlich unter Kritik?
Der Begriff „Kritik“ stammt aus dem Griechischen. In der hochentwickelten Kultur der griechischen Antike bedeutete krinein beurteilen, unterscheiden, d.h. prüfen, ob eine Sache oder ein Gedanke richtig oder falsch, gut oder schlecht, so oder anders sei. Unter der „kritischen“ Kunst verstand man die Kunst der Beurteilung, ein Suchen nach der Wahrheit oder eine Analyse. So gesehen, ist Kritik etwas Gekonntes, Wertvolles, Erarbeitetes, unvereinbar mit Leichtfertigkeit.
Mrs. Eddy gebraucht den Begriff „höhere Kritik“ in einem besonderen Sinne. Sie sagt von der von ihr entdeckten Wissenschaft: „Diese Wissenschaft ist ein Gesetz des göttlichen Gemüts, ein überzeugender Einfluß, ein unfehlbarer Antrieb, eine immer gegenwärtige Hilfe.“ Und sie fügt hinzu: „Sie ist die höhere Kritik, die höhere Hoffnung.“ Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes, S. 3; Auf die Bitte eines Schülers hin, dies näher zu erklären, schreibt sie: „Ich wiederhole nun einen weiteren Beweis, nämlich daß die Christliche Wissenschaft die höhere Kritik ist, weil sie das Böse, Krankheit und Tod — alles, was Gott, dem Guten, unähnlich ist — auf biblischer Grundlage kritisch betrachtet und in Übereinstimmung mit dem Wort Gottes billigt oder mißbilligt.“ ebd., S. 240;
Daraus ist ersichtlich, daß die Christliche Wissenschaft von uns ein Denken fordert, das auf einer geistigen Grundlage analysiert, ein Denken, das die geistige Wahrheit und Wirklichkeit zu erkennen trachtet. Sie akzeptiert die geistige Wahrheit, die in der Bibel offenbart wird, als Grundlage und Führer. Die Kritik am menschlichen Leben, die sich auf das sichere Wissen um die Allheit Gottes, die Allmacht des Guten und die Machtlosigkeit des Bösen gründet, führt tatsächlich zu Hoffnung, Glauben und Verständnis. Ohne diese Grundlage und ohne das Wissen um die geistige Wahrheit als Motiv und Zielsetzung verbleibt die Kritik auf der materiellen Ebene des sterblichen Gemüts und hat keine heilende Wirkung.
Ein anderer Aspekt ist ebenso wichtig: Der Zweck der höheren Kritik, wie sie in der Christlichen Wissenschaft verstanden wird, besteht darin, zu helfen; sie muß wirken, und zwar segensreich. Sie vermag dies nur, wenn sie aus einem selbstlosen, liebenden Herzen kommt, aus der Liebe zu Gott, dem Guten, und zu unseren Mitmenschen, wenn sie mit der Absicht zu heilen erfolgt und nicht als Selbstzweck angesehen wird. Wenn wir also Kritik üben, sollten Liebe und ein Suchen nach Wahrheit unser Motiv und Heilen und das Verständnis der Wahrheit unser Ziel sein. Als die Kunst der Beurteilung verlangt sie größte Sorgfalt; sie erfordert Zartheit und ein durch Gebet und Übung erworbenes Können.
Lassen Sie uns als Kritiker unserer Zeit mit offenen Augen durch die Welt gehen, tätig Anteil nehmen an dem, was in unserem Gemeinwesen, in unserem Land, in unserer Kirche vor sich geht. Wir können geduldig beobachten, verständnisvoll beurteilen, und wir können uns andere Meinungen und neue Auffassungen vorurteilsfrei anhören und die individuelle Freiheit des Denkens respektieren. Wir können die Regel des Apostels Paulus anwenden: „Prüfet aber alles, und das Gute behaltet.“ 1. Thess. 5:21;
Wenn alles geprüft werden muß, wo beginnen wir? Wir können mit Selbstkritik, Selbsterkenntnis anfangen. Vielleicht muß die höhere Kritik hier einsetzen, bei der Analyse der eigenen Gedanken, Motive und Verhaltensweise. Mrs. Eddy schreibt in Wissenschaft und Gesundheit mit der ihr eigenen Klarheit: „Geistig aufgefaßt ist Anatomie mentale Selbsterkenntnis und besteht in der Zergliederung der Gedanken, um deren Qualität, Quantität und Ursprung zu entdecken. Sind die Gedanken göttlich oder menschlich? Das ist die wichtige Frage. Dieser Zweig des Studiums ist für die Ausrottung des Irrtums unerläßlich.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 462 ; Ist nicht die Ausrottung des Irrtums aus unserem Denken und Tun von höchster Wichtigkeit für uns?
Im Matthäusevangelium wird uns berichtet, wie Jesus zu einigen Zeitgenossen, die von ihm ein Zeichen vom Himmel forderten, sagte: „Über des Himmels Aussehen könnt ihr urteilen; könnt ihr dann nicht auch über die Zeichen der Zeit urteilen?“ Matth. 16:3. Anstatt uns in der Kritik auf rein materieller und menschlicher Ebene zu verlieren, müssen wir unsere Aufmerksamkeit auf die geistigen Zeichen der Zeit richten. Jesus wies auch hier den Weg. Er lehrte die Wahrheit über Gott und den Menschen. Er hob den Gottesbegriff des Alten Testaments auf eine mehr geistige Stufe, erklärte die Zehn Gebote in seiner Bergpredigt und führte den Menschen ihre Bedeutung im täglichen Leben vor Augen. Seine höhere Kritik brachte geistige Erhebung und besaß eine heilende Tiefe. Nötigenfalls schloß sie auch das Bloßstellen eines Irrtums ein, stets jedoch, um den Menschen zu helfen und sie zu heilen, um den Weg des geistigen Fortschritts — den Weg des Lebens — zu weisen.
Die Geschichte des Christentums liefert den Beweis für den Wert und die Notwendigkeit einer tieferen Einsicht und eines höheren geistigen Verständnisses zur Erhaltung der reinen und ungeteilten Lehre Christi Jesu. Wenn wir die Entdeckung der Christlichen Wissenschaft als einen Teil der Geschichte des Christentums ansehen, nicht als von ihr getrennt, können wir klar erkennen, daß diese Wissenschaft, ebenso wie das ursprüngliche Christentum, das sie wiedereinführt, auf Dogmatismus verzichtet und von dem einzelnen ein höheres geistiges Verständnis und fortgesetzte Demonstration seines Glaubens verlangt. Wir alle möchten inspirierte Denker sein. Die Kirche Christi, Wissenschafter, bedarf des selbständigen und konstruktiven kritischen Denkens ihrer Mitglieder. Sie fördert und schätzt ihre Regsamkeit, ihr wachsendes geistiges Verständnis, ihre heilenden Demonstrationen. Kritiklos, nicht analytisch und nicht liebevoll zu denken würde Stillstand und Rückschritt bedeuten.
Kritisches Denken — höhere Kritik im Sinne der Christlichen Wissenschaft — muß immer mit einem selbstlos liebenden Herzen verbunden und darauf ausgerichtet sein, zu helfen und zu heilen. Solche Kritik ist niemals lieblos oder leichtfertig. Sie ist konstruktiv, weil sie von einer tiefen Liebe zu Gott und dem Menschen durchdrungen ist.
