Christus Jesus sprach zu einer bunten Gruppe von Menschen, darunter auch einigen Pharisäern, als er auf sich selbst als den guten Hirten Bezug nahm, der seine Schafe kennt und den seine Schafe kennen. „Und ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stalle“, sagte er, „und auch diese muß ich herführen, und sie werden meine Stimme hören, und wird eine Herde und ein Hirte werden.“ Joh. 10:16; Seit der Zeit hat sich das Christentum über den Erdball ausgebreitet, und es sind Hunderttausende von Kirchen, auf den Lehren Jesu fußend, zur Anbetung Gottes gegründet worden.
Heute können wir allerdings im religiösen Denken zwei verschiedene Entwicklungen beobachten: eine Ernüchterung gegenüber organisierter kollektiver Gottesanbetung und eine erstaunliche Zunahme des Interesses an geistigen Dingen, das die Menschen zusammenbringt. Während Kirchen vieler christlicher Richtungen besorgt auf ihre schwindenden Gemeinden blicken, hat sich eine außerordentlich starke Welle der Wißbegier erhoben, die nach der tieferen Bedeutung des Daseins fragt. Vorlesungen über Religion und Metaphysik sind oft überbelegt, die Veröffentlichung und der Verkauf von religiösen Büchern erleben eine Hochkonjunktur, und große Menschenmassen lauschen charismatischen Predigern und Gurus. Es rührt sich heute ganz offensichtlich ein tiefes Verlangen im menschlichen Herzen, zu entdecken, was der Mensch wahrhaft — geistig — ist, sich seiner Identiät in der unendlichen, göttlichen Einheit bewußt zu sein und sich dem Mitmenschen verbunden zu fühlen. Aber gleichzeitig findet man Widerstand gegen die Kirche als Einrichtung, gegen die Kirche, die im Idealfall der sichtbare menschliche Ausdruck des von Gott geschaffenen unsichtbaren, geistigen Baues ist, der das wahre Sein darstellt
Wenn auch die Menschen die Ursache ihrer Ruhelosigkeit oft nicht erkennen, so sind sie doch im allgemeinen nicht von den Theorien befriedigt, die die Identität auf materieller Grundlage erklären. Im Bewußtsein eines jeden, oft unterhalb der Schwell des bewußten menschlichen Denkens, ist ein Funke göttlicher Intelligenz vorhanden, der die Menschen dazu bringt, sich spontan gegen den Begriff von einer Individualität als bloßem selbstschöpferischem Staub aufzulehnen — gegen ein Dasein, das durch isolierte biochemische Organismen gekennzeichnet ist, die ihre einsame Existenz, unterschiedliche Intelligenz und ungewisse Bestimmung zufälligen physikalischen Entwicklungen und Bedingungen verdanken.
Mrs. Eddy beschreibt dieses rebellische Verlangen und seine Ursache, wenn sie in Wissenschaft und Gesundheit sagt: „Eine sterbliche, körperliche oder endliche Auffassung von Gott kann die Herrlichkeiten des grenzenlosen, unkörperlichen Lebens und der grenzenlosen, unkörperlichen Liebe nicht umfassen. Daher das ungestillte menschliche Sehnen nach etwas Besserem, Höherem, Heiligerem, als die materielle Annahme von einem physischen Gott und einem physischen Menschen zu bieten vermag.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 258; Die Erfahrung zeigt, daß die Lehren Christi Jesu, wenn sie wissenschaftlich verstanden und angewandt werden, wie nichts anderes dieses Verlangen befriedigen können, denn sie machen uns mit unserem göttlichen Vater bekannt — dem vollkommenen, unendlichen, ewigen Prinzip, der tatsächlichen Quelle allen wirklichen Seins, in dem wir Vollständigkeit und Vollkommenheit finden.
Die Christliche Wissenschaft erklärt, daß diese erste Ursache die Grundlage ist, von der ein vollkommen struckturiertes geistiges Universum ausgeht, das durch unveränderliche Gesetze regiert wird. In diesem einzigartigen und vollkommenen Bau des unsterblichen Gemüts existiert der Mensch, die Kundwerdung Gottes, in zahllosen Identitäten, und das Gute ist allerhaben. Dieses göttliche Gemüt ist die ewige Wohnstätte des Menschen, und wenn wir das Wesen unseres wahren, geistigen Seins in Gott verstehen — in seiner Unversehrtheit und Harmonie — und unser Leben in Übereinstimmung damit gestalten, erlangen wir den Frieden und die Freude, nach denen die Menschheit so inbrünstig verlangt.
Der Mensch ist individuell, jedoch nicht einsam oder isoliert. Die Identität der Söhne und Töchter Gottes ist vollständig, jedoch untrennbar von Ihm und dem geistigen Universum als Ganzem. Diese göttliche Ordnung der individuellen Ganzheit in ihrer Einheit mit der gesamten Schöpfung muß im praktischen Leben ausgearbeitet werden. Ein großer Teil der Lehren des Meisters ist auf dieses Ziel gerichtet. Er wies auf die Beziehung der Menschen zueinander hin: auf das Zusammenleben, ihre Zusammenarbeit, auf intelligentes Geben und das Vergeben. Er forderte seine Nachfolger auf, gegenseitig zu helfen, die Lasten zu tragen, und einander in liebevoller Geduld zu begegnen. Er sprach vom Segen des gemeinsamen Gebets, indem er sagte: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen.“ Matth. 18;20;
Die biblische Metapher vom Hirten und seiner Herde weist auf das Christusverständnis von Gottes allumfassender Vaterschaft und dem ewigen Bau der göttlichen Liebe hin. Die Bibel sagt von Jesus: „Da er das Volk sah, jammerte ihn desselben; denn sie waren verschmachtet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben.“ 9:36; Ja, ohne das Christusverständnis vom Sein des Menschen als Gottes Ebenbild ist die Menschheit verloren, einsam und unzufrieden — getrennt vom Bewußtsein des wahren Seins durch die negative Anziehung des tierischen Magnetismus.
Christus Jesus deckte die Erscheinungsformen des tierischen Magnetismus auf, die die Menschen von der Sicherheit und Harmonie der einen Herde hinwegziehen möchten. Die Bibel spricht von ihnen metaphorisch als von einer Schlange, einem Tier, einem Drachen, von falschen Propheten und von Wölfen in Schafskleidern. Mrs. Eddy erklärt sie in unpersönlichen und leicht verständlichen Begriffen: „Roter Drache. Irrtum; Furcht; Entzündung; Sinnlichkeit; Hinterlist; tierischer Magnetismus; Neid; Rache.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 593; An anderer Stelle schreibt sie: „Das Tier und die falschen Propheten sind Wollust und Heuchelei.“ ebd., S. 567.
Sind das die Feinde der einsamen, ruhelosen, unzufriedenen Schafe, die heute hungrig nach geistiger Befriedigung suchen? Sind das die negativen Kräfte, die sie von der Einrichtung hinwegziehen, die ihren geistigen Hunger stillen würde? Wenn das so ist, dann liegt Arbeit vor uns, um der Menschheit zu helfen. Wir können diese tierischen Charakterzüge — Heuchelei und Wollust, Neid und Rache — aus unserem Denken und aus unseren Kirchen verbannen. Mit der Unschuld des Lammes Gottes und mit dem Strom des Geistes der göttlichen Liebe können wir sie zerstören.
In Wahrheit sind Gottes Ideen unauflöslich vereint in Seiner Herde, ewiglich in Seiner Kirche, dem himmlischen Bau Seiner Schöpfung. Dieses Christusverständnis ist aufgerichtet und läßt sich nicht verleugnen. Die Prophezeiung unseres Meisters muß erfüllt werden: „ ... und wird eine Herde und ein Hirte werden.“
