Wer seine eigenen Gefühle versteht und selbstlose Liebe erlebt hat, weiß, daß die Ursache dieser Liebe außerhalb des sterblichen Selbst liegt. Diese Liebe, die mehr als eine Gefühlsregung, ja mehr als menschliche Zuneigung ist und einen veranlaßt, sich selbst im Dienst am Nächsten zu vergessen, kommt dem Göttlichen nahe.
Im ersten Brief des Johannes werden wir in den Ermahnungen über die brüderliche Liebe daran erinnert, daß die Liebe, die wir zueinander haben, in direkter Beziehung zu unserem Verständnis von Gott und unserem Verhältnis zu Ihm steht: „Ihr Lieben, lasset uns einander lieb haben; denn die Liebe ist von Gott, und wer lieb hat, der ist von Gott geboren und kennt Gott. Wer nicht lieb hat, der kennt Gott nicht; denn Gott ist Liebe.“ 1. Joh. 4:7, 8;
Und Mary Baker Eddy, die viele Menschen gelehrt hat, durch die Macht der göttlichen Liebe zu heilen, spricht sowohl von den menschlichen Eigenschaften der Liebe wie von der Liebe, die Gott selbst ist. In einem kurzen Artikel mit dem Titel „Liebe“ schreibt unsere Führerin: „Welch ein Wort! In Ehrfurcht stehe ich davor. Über was für Welten und aber Welten waltet und herrscht es! Das ursprüngliche, das unvergleichliche, das unendliche All des Guten, der alleinige Gott ist Liebe.“ Und sie beschreibt den Ausdruck der göttlichen Liebe im menschlichen Leben als etwas, was sich u. a. „in der sanften Hand“ zeigt, „die den Darbenden und Leidenden, den Kranken und Trauernden die Tür öffnet und so die dunklen Orte der Erde erhellt“ Vermischte Schriften, S. 249, 250;.
Es ist das Ausströmen der Liebe, das uns berührt und unsere Bedürfnisse stillt. In der reinen, geistigen Wirklichkeit, in der es weder Zeit noch begrenzten Raum gibt und die nur von den Kindern Gottes bevölkert ist, besteht die Vorstellung, jemanden erreichen zu müssen, nicht. Aber für die Menschen ist das Bemühen, sich anderen zuzuwenden, eine Möglichkeit, Hilfe zu leisten und zu erhalten. Gottes Engel (Ideen) bringen Segnungen zur Erde; die Menschheit wendet sich Gott zu, um diese Segnungen zu empfangen; und durch die Kräfte der Liebe stellen wir die Verbindung zueinander her, um uns gegenseitig zu helfen und zu heilen.
Es ist nicht immer einfach, einander wirklich liebevoll zu begegnen. Zwischenmenschliche Beziehungen sind oftmals oberflächlich oder sogar ausschließlich auf den eigenen Vorteil ausgerichtet. Wer aber Selbstsucht durch selbstlose Liebe überwindet, bringt der Erde — und ihren Bewohnern — etwas vom Himmel, was Not und Elend, Krankheit und Leiden lindert.
Lieben wir unsere körperliche und geistige Bequemlichkeit, oder auch nur eins von beiden, haben wir nicht die richtige Einstellung, um dem Hilfesuchenden nahezukommen. Ehe wir „den Darbenden und Leidenden, den Kranken und Trauernden die Tür“ öffnen können, müssen wir unsere eigene Abneigung überwinden, anderen zu helfen. Der Leidende verschanzt sich bisweilen hinter zahlreichen Wällen. Und der Heiler muß geduldige, selbstlose Liebe haben, um diese Wälle zu durchbrechen.
Aber nur durch die göttliche Liebe kann die wirkliche Lösung eines Problems herbeigeführt werden. Die Liebe ist so groß, daß sie das Problem zu durchdringen, das Leiden zu stillen, die menschlichen Übel zu heilen vermag. Der Bereich der göttlichen Liebe ist dort, wo der wirkliche Mensch ist, wo, um es mit den Worten der Bibel zu sagen, sein „Leben ... verborgen [ist] mit Christus in Gott“ Kol. 3:3;.
Nur durch die Demonstration der göttlichen Liebe — die vom körperlichen Sinn weder beeinflußt noch beirrt wird — kann eine Heilung erzielt, d. h. der Beweis erbracht werden, daß es keinen Ursprung und keine Ursache für das Leiden gibt und es deshalb auch keine Wirkung haben kann; daß es keine Substanz hat; daß kein Gesetz einen bösartigen Vorgang unterstützt oder ihm Gültigkeit verleiht und daß das Böse aus dem menschlichen Bewußtsein verschwinden muß, weil es im göttlichen oder wahren Bewußtsein nicht existiert.
„Wenn der Wissenschafter seinen Patienten durch die göttliche Liebe erreicht“, schreibt Mrs. Eddy, „wird das Heilungswerk in einem Besuch vollbracht werden, und die Krankheit wird wie der Tau vor der Morgensonne in ihr natürliches Nichts vergehen.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 365;
Wenn wir durch die göttliche Liebe erreicht werden, wird der menschliche Zustand gesegnet. Was auch immer uns einreden möchte, wir verdienten es, zu leiden, löst sich auf, wenn die Christlichkeit des wahren Lebens erkannt wird. Spekulationen darüber, warum das Leiden besteht, wann es aufhören wird, was dagegen getan werden kann, weichen dem Wissen, das die göttliche Liebe vermittelt. Ein solches inspiriertes Wissen erhält den Leidenden in der Obhut des Christus — es umsorgt ihn.
Vielleicht sind wir enttäuscht, weil wir vergebens versucht haben, einem leidenden Freund allein durch menschliche Zuneigung zu helfen. Bisweilen führt unsere tapferste Selbstaufopferung nur zu Verwirrung. Wir mögen verzweifeln, wenn wir die Not eines anderen durch persönliche menschliche Bemühungen zu stillen suchen. Aber die Reichweite der göttlichen Liebe ist unendlich.
Bringen wir die unendliche Liebe zum Ausdruck, tun wir mehr, als andere lediglich durch gütige Anteilnahme zu trösten oder zum notwendigen Erwachen zu drängen. Beides mag für den Heilungsprozeß nützlich sein. Aber die ewige Liebe, die weder Sünde noch Leiden kennt, weiß auch nichts von einem Prozeß. Was als der Augenblick der Heilung erscheint, ist die Ewigkeit der göttlichen Wirklichkeit.
Wie können wir diese Macht, die augenblicklich heilt, beständiger nutzen? Es genügt nicht, lediglich gewisse selbstische Gewohnheiten und die Bequemlichkeit zu überwinden. Wer durch die Gnade der Liebe heilen will, muß sich selbst — seine wahre geistige Identität — verstehen. Er muß erkennen, daß sein eigenes Leben „verborgen mit Christus in Gott“ ist. Die Frage „Wie können wir unser wahres Selbst erreichen?“ beantwortet Mrs. Eddy mit zwei Wörtern: „Durch Liebe.“ Verm., S. 104;
In dem Maße, wie wir täglich die göttliche Liebe als die wirkliche Grundlage und die beseelende Kraft unseres Lebens beanspruchen und akzeptieren, lernen wir, uns selbst zu vergeben. Das besagt nicht, daß wir unsere Fehler beschönigen oder sie rechtfertigen. Uns selbst zu lieben heißt nicht, unseren Vorlieben und Abneigungen, unseren Launen und Schrullen nachzugeben; vielmehr bedeutet es, uns eine Freude am Leben und am Vollbringen zu bewahren, die sich mühelos mitteilt wie die jener tugendhaften Frau, von der in den Sprüchen gesagt wird: „Sie breitet ihre Hände aus zu dem Armen und reicht ihre. Hand dem Bedürftigen.“ Spr. 31:20.
Die allmähliche Erlösung von dem Gefühl, wir seien von Gott getrennt, mag sich zunächst darin zeigen, daß wir unserem wahren Selbst näherkommen und dann einander helfen können. Aber wenn wir uns der geistigen Wirklichkeit des Lebens völlig bewußt werden, stellen wir fest, daß sich alle und jeder innerhalb der unendlichen Reichweite der göttlichen Liebe befinden.
