Angenommen, wir wären mit Mose am Horeb gewesen; wir hätten mit ihm aus dem gleichen inneren Antrieb das Tal der Zweifel verlassen und wären den Berg hinaufgestiegen, auf der Suche nach einem Gott, von dem er wußte, daß er existieren mußte, den er aber erst zu verstehen begann. Angenommen, wir hätten jenen brennenden Busch gesehen, der nicht vom Feuer verzehrt wurde, und hätten dort zum erstenmal vernommen, was Mose durch göttliche Inspiration hörte: „Ich werde sein, der ich sein werde.“ 2. Mose 3:14.
Angenommen, wir hätten bei Christus Jesus gestanden, als Lazarus, der schon vier Tage tot war, aus dem Grab hervortrat; oder wir wären in jenem verschlossenen Raum gewesen, als der Meister nach seiner Kreuzigung seinen Jüngern erschien. Hätte nicht ein tiefes Gefühl der Ehrfurcht und Verwunderung uns veranlaßt, mental niederzuknien, um eine Macht anzuerkennen, die nicht von uns ausgeht?
Göttlich inspirierte Ehrfurcht ist ein sehr hilfreiches Element des menschlichen Denkens. Sie veranlaßt uns, das Haupt in Ehrerbietung zu neigen und heilende, christliche Wahrheiten in unser Bewußtsein einzulassen, die wir und die Welt so dringend benötigen. Ehrfurcht ist jedoch kein Attribut Gottes. Das unendliche Gemüt kann vor nichts Ehrfurcht haben. Außer der großen ersten Ursache und Gottes Schöpfung kann nichts existieren. Nichts besteht außerhalb von Gott, weil Er alles einschließt. Aber ein rechtes Gefühl der Ehrfurcht vor Gott bewahrt uns davor, wie es in der Bibel so treffend heißt, „halsstarrig“ zu sein, Gott zu verschmähen, und verhütet daher, daß wir unter den unvermeidlichen unheilvollen Folgen leiden. Diese Bedeutung liegt der folgenden biblischen Aufforderung zugrunde: „Alle Welt fürchte den Herrn, und alles, was auf dem Erdboden wohnet, stehe in Ehrfurcht vor ihm.“ Ps. 33:8 [n. der engl. King-James-Ausgabe].
In Ehrfurcht vor Ihm, dem Schöpfer, zu stehen ist äußerst wichtig, wenn wir täglich für uns beten. Immer wieder zeigt uns die Bibel, daß wir in unserem Gebet von Gott ausgehen müssen. Als Antwort auf die Frage: „Was ist Gott?“ erklärt Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit: „Gott ist unkörperliches, göttliches, allerhabenes, unendliches Gemüt, Geist, Seele, Prinzip, Leben, Wahrheit, Liebe.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 465. Die Ehrfurcht, die wir diesen Synonymen für Gott entgegenbringen, schließt keineswegs Schrecken oder Furcht ein; vielmehr stehen wir in Ehrerbietung und Bewunderung vor ihnen.
Unsere Führerin Mrs. Eddy schreibt über die Liebe: „Welch ein Wort! In Ehrfurcht stehe ich davor. Über was für Welten und aber Welten waltet und herrscht es! Das ursprüngliche, das unvergleichliche, das unendliche All des Guten, der alleinige Gott ist Liebe.“ Vermischte Schriften, S. 249. Wir handeln nicht eigenmächtig, wenn wir in diesem Zitat das Wort Liebe der Reihe nach gegen die anderen Synonyme austauschen, sondern folgen ihr, wohin sie führt, und stellen fest, daß wir vor jedem Synonym in Ehrfurcht verweilen und uns der Unendlichkeit seiner erhabenen Macht und Herrlichkeit bewußt werden.
Mose war zu seiner Zeit als einziger bereit und fähig, die Höhen des Sinai zu besteigen; und so konnte er Gott und seinem Volk besser dienen. Wir lesen, daß Jesus sich allein auf einen Berg zurückzog, um zu beten. Heute gibt es viele, die angeregt durch das Leben und das höchste Opfer des Meisters und durch die geistige Schau, die ihre Führerin vom Evangelium hatte, in wortlosem Gebet die Höhen geistigen Verständnisses erklimmen können. Dort stehen sie demütig, allein, mit bloßen Füßen vor dem Wunder der Allheit Gottes. Voller Ehrfurcht blicken sie auf das, was sie von Seiner geistigen Schöpfung verstehen — wie gering dieses Verständnis auch sein mag —, und erkennen demütig ihren eigenen Platz in dieser Schöpfung. Dann kehren sie in das Tal der begrenzten menschlichen Vorstellungen zurück und bemühen sich, dort wenigstens etwas von dieser göttlichen Herrlichkeit widerzuspiegeln und zur Heilung der vielen Nöte des Lebens beizutragen. In einem Artikel mit der Überschrift „Die Tiefen der Gottheit“ legt Mrs. Eddy deutlich dar, wie notwendig Ehrfurcht ist. Sie schreibt: „Die Menschen müssen sich Gott in Ehrfurcht nahen, ihre eigene Arbeit im Gehorsam gegen das göttliche Gesetz tun, wenn sie die gewünschte Harmonie des seins erreichen wollen.“ Die Einheit des Guten, S. 13.
Ich erinnere mich noch lebhaft, wie ich das erste Mal um Hilfe durch Gebet ersucht wurde, die jeder, der ein annehmbares Verständnis von der Christlichen Wissenschaft hat, gewähren kann, wenn er darum gebeten wird. Als ich eines Tages von der Arbeit nach Hause kam, fand ich eine Nachricht von einem Nachbarn vor, der auch ein Christlicher Wissenschafter war. Ich ging sofort zu ihm und erfuhr, daß er unter starken Magenschmerzen litt, die schon fast zwei Wochen andauerten. Nachdem ich mich bemüht hatte, mein Denken mit Wahrheiten über Gott und den vollkommenen, geistigen Menschen zu erfüllen und der Krankheit im Namen Gottes jede Wirklichkeit oder Macht abzusprechen, machte ich mich auf den Heimweg. Ich fühlte, daß noch etwas getan werden mußte, daß eine gewisse geistige Einstellung erreicht werden mußte, wenn die ersehnte Heilung folgen sollte. Als ich innehielt, um bei meinem Bekannten die Gartenpforte zu schließen, erfüllten mich plötzlich einige Worte aus einem Kirchenlied mit Ehrfurcht und Bewunderung; sie waren mir in den Sinn gekommen, ohne daß ich mich an sie zu erinnern suchte. Es waren an sich schlichte Worte, aber sie erleuchteten mein Denken und erstrahlten voller Bedeutung und Kraft: „Sein höchstes Kunstwerk ist der Mensch. “ Liederbuch der Christlichen Wissenschaft, Nr. 51.
Ich sah, daß das geistige, vollkommene Werk Gottes schon getan war. Und ich konnte nicht umhin, diese Tatsache sofort, ohne Vorbehalt oder irgendein „Aber“ anzuerkennen. Als ich höchstens drei Minuten später zu Hause ankam, klingelte das Telefon, und mein Bekannter berichtete, daß er vollständig geheilt sei. Hätte ich geglaubt, einen menschlich persönlichen Einfluß ausüben oder eine menschlich persönliche Kraft aufbieten zu müssen, wäre ich vom christlichen Weg abgewichen, den unser Meister offenbarte, als er sogar von sich selbst sagte: „Ich kann nichts von mir selber tun.“ Joh. 5:30.
Wie hoffen wir doch alle, niemals so halsstarrig zu sein, so von Eigendünkel ergriffen zu werden, daß es der Ehrfurcht nicht gelingt, in unserem Denken für die nötige Inspiration Raum zu machen, so daß die Heilung ganz natürlich folgen kann.
Viele können sich an Beispiele erinnern, wo sie sich in schwerer Krankheit oder verzweifelter Not von ganzem Herzen an Gott wandten, alle ihre Sorgen auf Ihn warfen und sich von Seinem sanften, heilenden Christus helfen und heilen ließen. Sie vergessen nicht die Heiligkeit dieser Erfahrung und sprechen von ihr mit echter Ehrfurcht und Aufrichtigkeit.
Unsere Führerin sagt uns im Handbuch Der Mutterkirche: „Zeugnis in bezug auf das Heilen der Kranken ist äußerst wichtig. Es ist mehr als ein bloßes Aufzählen von Segnungen, es ersteigt den Gipfel des Lobes und veranschaulicht die Demonstration des Christus, der da, heilet alle deine Gebrechen‘ (Psalm 103:3).“ Handb., Art. VIII Abschn. 24. Tiefe Achtung und Ehrfurcht sowie dauernde Freude verleihen unseren Stimmen den unverkennbaren Klang, der diesen überaus bedeutungsvollen Gipfel erreicht und viel beredter, als Worte es jemals vermögen, von der zärtlichen Immergegenwart und mächtigen Kraft des heilenden Christus spricht. Wir wissen, daß Heilung nicht davon abhängt, wie geschickt unser menschliches Gemüt mit Worten umgeht, sondern von unserer Bereitwilligkeit, die geistigen Wahrheiten in ihrer unermeßlichen Bedeutung auf uns wirken zu lassen. Heilung wird nicht dadurch erzielt, daß unser menschliches Selbst das Unmögliche zustande zu bringen und Gottes Gesetze unseren Plänen zu unterwerfen sucht, vielmehr erlangen wir sie, wenn unser christliches Selbst durch die widergespiegelte Herrlichkeit unseres himmlischen Vaters erleuchtet wird und Seine Gesetze demonstriert, die Dunkelheit des sterblichen Denkens sowie Zweifel und Furcht zerstört, die Ursache der Krankheit entfernt und sie heilt.
In unseren gemeinsamen Bemühungen haben wir alle sicherlich schon gedacht: Möge ich mir in größerem Maße als bisher bewußt werden, daß die Christliche Wissenschaft folgendes offenbart:
• Ich bin kein sterbliches „Ich“, das auf menschliche Weise die Worte der Synonyme für Gott kennt, sondern das wahre „Ich“, das die Macht, die Herrlichkeit und das Licht widerspiegelt, die jedes Synonym für Gott enthüllt.
• Ich bin kein menschliches „Ich“, das gewandt Bibelverse und sogar ganze Abschnitte aus Wissenschaft und Gesundheit zitiert, sondern das göttlich erschaffene „Ich“, das immer auf die Stimme des himmlischen Vaters lauscht und das tut, was Er zu tun gebietet.
• Ich bin kein sterbliches „Ich“, das versucht, zu heilen, sondern ich beherberge den immergegenwärtigen Christus, der niemals versagt.
• Ich bin kein ans Fleisch gebundenes „Ich“, das glaubt, die Kirche zu unterstützen, sondern das geistige „Ich“, das beweist, was Kirche ist — die den geistigen Menschen segnet, der sich in den Dienst des himmlischen Vaters gestellt hat.
Es geht also nicht darum, was meines Erachtens mein menschliches Selbst mit der Wissenschaft des Christentums anfangen kann, sondern wie ich mich voller Ehrfurcht in der Christlichen Wissenschaft sehe.