Vor einigen Jahren berichtete die Nachrichtenagentur Associated Press von einem Mann, der sich mehr als dreißig Jahre lang verborgen gehalten hatte, bis man ihn schließlich entdeckte. Nachdem im Zweiten Weltkrieg die feindlichen Streitkräfte in Jugoslawien den Sieg errungen hatten, fürchtete sich dieser Mann vor einer möglichen Vergeltung und verurteilte sich selbst praktisch zum Exil und zur Isolation im Dachboden des Farmhauses seiner Schwester. Die Furcht hatte ihn sein halbes Leben lang von der menschlichen Gesellschaft abgeschnitten.
Doch in der Bibel wird uns eine andere „Zuflucht“ geschildert. Sie befreit, anstatt einzusperren. Sie beschützt uns und gibt uns den Mut, den Herausforderungen des Lebens entgegenzutreten, erlaubt uns aber nicht, vor der Verantwortung zu fliehen. Diese „Zuflucht“ bietet uns geistige Sicherheit vor den aggressiven und zerstörerischen Einflüssen der materiellen Gesinnung und der Sünde. Sie ermöglicht es uns, der Weltlichkeit zu entsagen, ohne der Welt den Rücken zu kehren.
Ein beliebter Psalm beschreibt diese geistige Sicherheit als das Verweilen unter dem „Schirm des Höchsten“, als das Geborgensein im „Schatten des Allmächtigen“. Hier ist Gott unsere „Zuversicht“ und unsere „Burg“. Und „er hat seinen Engeln befohlen, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen.“ Ps. 91:1, 2, 11.
Im Neuen Testament heißt es schlicht: „Euer Leben ist verborgen mit Christus in Gott.“ Kol. 3:3. Der Christus, die immergegenwärtige Tätigkeit der göttlichen Liebe, wirkt in unserem Leben, um uns zu erheben und zu erlösen — uns zur bewußten Einheit mit Gott zu führen. Der Christus legt jedem Herzen die geistige Tatsache dar, daß des Menschen wahres Leben der Ausdruck des göttlichen Lebens ist. Der Mensch existiert als Idee des unendlichen Gemüts. Und diese Kundwerdung Gottes, die Sein genaues Bild und Gleichnis ist, besteht ewiglich gemeinsam mit dem Schöpfer. Wenn wir diese wahre Beziehung zu Gott erkennen, sehen wir, daß dem vom Geist erschaffenen Menschen kein Leid zugefügt, daß er weder mißbraucht, ausgenutzt noch seiner natürlichen Freude und Lebenskraft beraubt werden oder krank sein kann. Wenn wir uns in unserem Leben an unseren Vater-Mutter Gott halten, werden wir auf ganz natürliche Weise Unschuld, Reinheit und Spontaneität erleben.
Inmitten des Lärms und der Geschäftigkeit unserer menschlichen Angelegenheiten spüren wir jedoch oftmals das Verlangen nach einer Zuflucht — einem stillen Platz, wo wir beten und uns geistig stärken können. In unserem Berufsleben mögen beunruhigende Veränderungen eingetreten sein, unsere Familie mag schwere Zeiten durchmachen, oder vielleicht kämpfen wir mit einer chronischen Krankheit, die unsere mentale und körperliche Kraft sehr stark beansprucht. Die „Zuflucht“, die uns die Gemeinschaft mit Gott gewährt, ist ein sicherer Hafen, in dem wir Schutz vor dem Sturm finden und uns demütig an das göttliche Gemüt wenden können, um zu erfahren, was zu tun ist. Wenn wir dann die Regierung des Gemüts verständig anerkennen, empfangen wir die geistige Wahrheit und neue Inspiration — der Christus erfüllt unser Bewußtsein und stillt die Unruhe.
Spüren wir die unmittelbare Gegenwart der göttlichen Liebe und spiegeln wir sie in unserem Leben wider, dann haben wir eine undurchdringliche Rüstung angelegt — ein wunderbares Aufgebot des Guten umgibt uns. Mrs. Eddy schreibt: „Bist du mit dem Panzer der Liebe angetan, so kann menschlicher Haß dich nicht erreichen.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 571. Auch Krankheit und Sünde können uns dann nicht berühren. Wenn wir das Bewußtsein erlangen, das allein die göttliche Liebe kennt und zum Ausdruck bringt, kann nichts unsere geistige Reinheit und Güte entweihen. Wir können beweisen, daß Krankheit weder ansteckend noch erblich ist und Disharmonie sich nicht von einem auf den anderen übertragen läßt oder gegen jemanden gerichtet sein kann. In Wirklichkeit verweilt jedes Kind Gottes im Schatten der Liebe unseres himmlischen Vaters, wo sich ihm keine Plage nahen kann.
Wir müssen jedoch eine gewisse Vorsicht walten lassen, wenn wir nach dieser besonderen „Zuflucht“ suchen, wo wir eins mit Gott sein können. Wir müssen wachsam sein, daß wir das Verweilen „unter dem Schirm des Höchsten“ nicht mit der Flucht in einen mentalen elfenbeinernen Turm verwechseln, den die Menschheit nicht erreichen, in den sie nicht gelangen kann und in dem ihre wenig bekannt sind. Bisweilen ist die irrige Ansicht, durch die Religion isoliert zu sein, mit einer falschen Vorstellung von der eigenen Wichtigkeit verbunden. Ist unsere Demut echt und sind wir jederzeit selbstlos bereit, dem Ruf unsere Mitmenschen nach Trost oder Heilung zu entsprechen, zeigen wir, daß wir unsere Religion leben.
Der Christ, der sich bemüht, Christus Jesus zu folgen, wird sich nicht von der Menschheit absondern. Gewiß brauchen wir Zeiten der Abgeschiedenheit — um aus tiefstem Herzen mit unserem Schöpfer zu sprechen, um den Anweisungen der Liebe zu lauschen, um den Lärm der materiellen Welt mit ihrer Verwirrung und ihren Versuchungen zum Schweigen zu bringen, um unsere geistige Inspiration von neuem zu beleben. Jesus brauchte solche Zeiten der Stille, und er fand sie. Aber sich hinter Mauern zu verbergen, die Nöte der Menschheit zu ignorieren und nur an die eigenen persönlichen Wünsche und Bedürfnisse zu denken — das war keineswegs Jesu Art. Noch sollte es unsere sein.
Unser Meister nutzte seine „Zuflucht“ als eine Gelegenheit, sich auf die Ausdehnung seiner Heilarbeit vorzubereiten. Seine Liebe war so echt, so absolut von Gott gegeben, daß er sich unmöglich von der Welt zurückziehen konnte, die seine Liebe brauchte. Der Erlöser verkündete in seiner Bergpredigt, daß seine Jünger „das Licht der Welt“ seien und dieses Licht nicht dazu bestimmt sei, im Verborgenen zu leuchten. Er sagte: „Man zündet auch nicht ein Licht an und setzt es unter einen Scheffel, sondern auf einen Leuchter; so leuchtet es allen, die im Hause sind.“ Matth. 5:14, 15.
Liebe ist also der Schlüssel, mit dessen Hilfe wir unser Leben finden, das mit Christus verborgen ist, in dem wir aber unser Licht leuchten lassen. Eine reine Liebe zu Gott und dem Menschen — selbstlose Liebe — ist der Kern von Jesu Lehren und Lebenswerk. Wenn wir hier und jetzt das Gute lieben und beweisen, gibt es auf der ganzen Welt — oder sonst irgendwo — keinen sichereren Platz. Die göttliche Liebe ist allerhaben; sie bestimmt und beschützt jeden Schritt, den wir tun. Mrs. Eddy erklärt: „Durch das Verständnis der Gewalt, die Liebe über alles hat, fühlte sich Daniel in der Löwengrube sicher und bewies Paulus, daß die Otter unschädlich war.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 514.
In diesen beiden Fällen wurde unter lebensgefährlichen Bedingungen bewiesen, daß das wahre Sein des Menschen in Gott verborgen ist. Doch die Demonstration der beschützenden Macht der Liebe rettete nicht nur zwei einzelne Menschen. Wie die Bibel berichtet, brachte Daniels Erfahrung all denen im Lande, die den einen unendlichen Gott anbeteten, die religiöse Freiheit. Das Erlebnis des Paulus wurde zum Ausgangspunkt für seine bemerkenswerte Heilarbeit, die er in den drei Monaten leistete, in denen er als Schiffbrüchiger auf der Insel Malta weilte.
Jeder, der von der heilenden und erlösenden Macht des Christus, der Wahrheit, etwas erschaut, hat heute eine ihm von Gott übertragene Aufgabe zu erfüllen — nämlich zu heilen, ein lebendiges Beispiel der Reinheit und geistigen Gesinnung zu sein und sich zartfühlend um das Wohlergehen der Menschheit zu sorgen. Wenn wir beweisen, daß unser Leben mit Christus verborgen ist, erstrahlt der Christus in unserem Tun. Und der Christus-Geist findet in jedem Herzen Widerhall, das sich aufrichtig danach sehnt, Gott zu verstehen. Die allumfassende Liebe Gottes garantiert uns eine unerschütterliche Zuflucht, wenn wir alle, die Er liebt, uneingeschränkt in unsere Liebe einschließen. Und hat Gott nicht einen jeden lieb?