Liest man in der Presse Beschreibungen der Christlichen Wissenschaft, stellt man allgemein fest, daß allzu häufig nur einem Punkt beträchtliches Interesse geschenkt wird, nämlich dem, sie lehre, daß die Kraft des menschlichen Gemüts den physischen Körper verändere und möglicherweise das gesamte menschliche Leben beherrsche. Wie falsch dies ist. Und welch einen Sieg der Materialismus und der blinde Egoismus davontragen würden, wenn die geistigen und moralischen Erfolge der Christlichen Wissenschaft einfach zu einer weiteren mentalen Methode, persönliche Herrschaft über die Welt zu erreichen, herabgesetzt werden könnten!
Es scheint, als würden Materialismus und Selbstsucht so weitverbreitet akzeptiert, daß das einzige Kriterium, nach dem etwas bewertet wird, nur noch in der Frage liegt: Garantiert mir diese neue Entdeckung die Erfüllung meiner persönlichen Ambitionen und Wünsche? So gesehen, versteht man unter einer Heilung schlechthin Vergnügen, Wohlergehen und Abwesenheit von Schmerz in der Materie, und sie verliert ihre wesentliche christliche Bedeutung — nämlich die belebende Wiederherstellung, die unser moralisches und geistiges Wachstum fördert.
Daher mag es viele überraschen, Mary Baker Eddys Antwort auf die Frage: „Stellt das Heilen der Kranken alles dar, was die Wissenschaft in sich schließt?“ zu hören. Die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft beginnt ihre Erwiderung mit der folgenden fesselnden Erklärung: „Das Heilen von körperlicher Krankheit ist der kleinste Teil der Christlichen Wissenschaft. Es ist nur der Weckruf zum Denken und Handeln im höheren Bereich der unendlichen Güte. Was die Christliche Wissenschaft mit allem anstrebt, ist das Heilen von Sünde; und diese Aufgabe mag zuweilen schwerer sein als das Heilen von Krankheit, da die Sterblichen zwar gern sündigen, doch nicht gern krank sind.“ Grundzüge der Göttlichen Wissenschaft, S. 2.
Im Lichte dieser und zahlreicher anderer Erklärungen in Mrs. Eddys Schriften fragt man sich dann, warum die meisten Kritiker und Analytiker immer wieder dem physischen Heilen Aufmerksamkeit schenken, ja, warum sie es für das hauptsächliche und gewöhnlich sogar für das einzige Element der Christlichen Wissenschaft halten. Welche Ironie, daß die Christliche Wissenschaft, ihre Entdeckerin und ihre Anhänger manchmal kritisiert und verächtlich behandelt werden, weil sie angeblich solch irdischen Zielen wie körperlichem Wohlergehen ein übermäßiges Interesse schenken, wo es doch heißt: „Was die Christliche Wissenschaft mit allem Nachdruck anstrebt, ist das Heilen von Sünde.“ Tatsache ist, daß der Christliche Wissenschafter, wenn er das wahre Wesen Gottes und des Menschen über die Anfangsstadien hinaus weiterhin zu erforschen sucht, bald entdeckt, daß die Christliche Wissenschaft wesentlich mehr von dem Glaubenden fordert als das instinktive Verlangen, der Mühsal und dem Leid zu entkommen und sein Geschick zu verbessern, wie lohnenswert diese Impulse bei der Einführung in die Wissenschaft des Christus auch sein mögen.
Die geistigen Gesetze Gottes, die die Christliche Wissenschaft vertritt und erklärt, stehen in derart krassem Gegensatz zu den allgemeinen materiellen Weltanschauungen, daß sie im Leben des Wissenschafters — wenn er diese Wissenschaft weiterhin studiert und betätigt — eine größere Umwälzung in Fragen der Moral und Existenz bewirken mögen, als er je geahnt hat. Doch gerade das ist es, was christliches Entdecken und geistiger Fortschritt bedeutet. Und die Opfer, die wir bringen, werden reich belohnt.
Betrachten wir einmal die Erfahrungen der Jünger Christi Jesu. Jesus hatte seine Schüler unmißverständlich auf bevorstehende Kämpfe hingewiesen, er hatte u. a. auch seine Gefangennahme und Kreuzigung vorausgesagt. Anscheinend aber waren sie nicht gewillt, sich mit solchen Konflikten auseinanderzusetzen, die nicht in ihre Vorstellung davon paßten, wie das Reich Gottes auf Erden aufgerichtet werden würde. Die Bibel berichtet, daß alle derart betroffen waren, als Jesus tatsächlich gefangengenommen wurde, daß sie ihn nach einigem anfänglichen Widerstand verließen. Nur Johannes bekannte sich bis zur Kreuzigung zu ihm. Doch obgleich sie Jesus im Stich ließen, seine Mission, des Menschen geistige Beziehung zu Gott zu offenbaren, konnte nicht vereitelt werden. Gottes Wille mußte geschehen und geschah. Und durch bittere Erfahrung und das Erlernen geistiger Disziplin kehrten die Jünger schlißlich um und suchten weiter nach der Wahrheit. Sie lernten die Wahrheit des Seins, die Jesus gelehrt hatte, so sehr zu schätzen, daß sie bereit waren, um sie zu kämpfen, welche Mühe oder Selbstaufopferung dieser Kampf sie auch kostete.
Die Heilarbeit eines Ausübers der Christlichen Wissenschaft ist das direkte Ergebnis der Selbstaufopferung, die den menschlichen Willen aufgibt, denn allein Demut macht den Heiler für Gottes mentale Hilfe empfänglich. Der sogenannte mentale Heiler, der nur körperliche Heilung und die flüchtige Herrschaft sucht, die er über irdische Zustände gewinnen könnte, ist nicht vertrauenswürdig und vermag echtes geistiges Wachstum nicht zu fördern. Er ist wie ein Rechtsanwalt, der nur für sein Honorar rechtet; wie ein Student, der nur auf sein Diplom hinzielt, und wie ein Soldat, dem es nur um die Kriegsbeute geht.
Nur der ist in der Christlichen Wissenschaft erfolgreich, der etwas Tieferes als Selbstzufriedenheit und persönliche Macht anstrebt, eine moralische und beständige Liebe für alles Geistige hegt und gewillt ist, Sünde aufzugeben. Die Frage, wie man lernt, durch die Wissenschaft des Christus zu heilen oder geheilt zu werden, kann man nur mit jemandem erörtern — sei es ein Bekehrter, ein Kritiker oder jemand, der für die Christliche Wissenschaft eintritt —, wenn er bereit ist, ernsthaft die christlichen Voraussetzungen zu beachten, die unmißverständlich im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, vor allem im Kapitel „Versöhnung und Abendmahl“, dargelegt sind. Hier dient das Leben Christi Jesu und seine Selbstaufopferung als Vorbild für ein Leben, das in beständiger Beziehung zum göttlichen Gemüt gelebt wird. Dieses christliche Leben, diese Geistigkeit, verleiht der Heilkraft, die schon lange mit der Christlichen Wissenschaft in Verbindung gebracht, aber wenig verstanden wird, ihren Antrieb. Die Kraft, die das Heilen in der Christlichen Wissenschaft bewirkt, ist und bleibt das Gemüt des Christus, die Vergeistigung des Denkens und des Lebens, auch wenn sie fälschlicherweise oft mit der mutmaßlichen Kraft des menschlichen Gemüts in Verbindung gebracht wird. Mrs. Eddy erklärt in dem erwähnten Kapitel: „Jesus war selbstlos. Seine Geistigkeit trennte ihn von der Sinnengebundenheit und veranlaßte den selbstsüchtigen Materialisten, ihn zu hassen; aber gerade diese Geistigkeit war es, die Jesus befähigte, die Kranken zu heilen, Übel auszutreiben und die Toten zu erwecken.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 51.
Es liegt in der ureigenen Natur wahrer Religion, die Menschheit über ihren gegenwärtigen Zustand zu erheben, indem sie den einzelnen aus der Sünde zur christlichen Selbstlosigkeit führt, die heilt und erneuert. Mrs. Eddy sagt: „Was die Christliche Wissenschaft mit allem Nachdruck anstrebt, ist das Heilen von Sünde...“ Ungerechte Klischees sollten den tatsächlichen Inhalt ihrer Lehren nicht verdunkeln. Die Christliche Wissenschaft kann schließlich nur von denen beurteilt werden, die sie genügend verstehen, um sie demonstrieren zu können.
