Als Julia für ihre Sommerferien bei den Großeltern eintraf, saß ihre Großmutter auf der Veranda. Nachdem Großmutter sie herzlich umarmt und geküßt hatte, fragte Julia: „Wo ist denn Opa?“
„Er ist im Haus. Opa fühlt sich heute nicht wohl.“
Julia hielt die Hände über die Augen, um sie gegen das grelle Sonnenlicht abzuschirmen, und spähte durch die Fliegengittertür ins Haus. Sie sah Großvater in seinem Sessel sitzen; er war eingenickt. Sie ging nicht hinein, denn sie wollte ihn nicht aufwecken.
Das Haus ihrer Großeltern war nicht sehr groß. Es hatte nur ein Zimmer, in dem sie lasen, nähten und um den Kamin wenn es draußen kalt war. Zwei große Betten standen darin, die mit Federn gefüllte Matratzen hatten. Die Großeltern schliefen in dem einen Bett und Julia in dem anderen. Die Küche befand sich in einem bescheidenen Anbau an der Rückseite des Hauses. Dort wurde gekocht und gegessen. In Großmutters Haus gab es weder Elektrizität noch Gas.
Julia gefiel es auf dem Lande, wo sie beim Hühnerfüttern und bei der Gartenarbeit helfen konnte. Am Abend durfte sie das Kälbchen streicheln, während ihre Großmutter die Kuh molk. Dann sammelten sie im Hühnerstall die Eier aus den Nestern, und Julia war dabei sehr vorsichtig, um keines zu zerbrechen.
Besonders gern beobachtete Julia die Küken, wenn ein Gewitter aufzog. Beim ersten Donnerschlag lockte die Henne mit ihrem „Gluck! gluck! gluck!“ ihre Küken. Und die Küken kamen angerannt, so schnell ihre winzigen Beinchen sie nur tragen konnten. Dann breitete die Henne ihre Flügel aus, so weit sie konnte, und bedeckte alle ihre Küken sanft mit ihren weichen Federn. Dort waren sie vor dem Regen und den lauten Donnerschlägen sicher.
Die Henne und ihre Küken erinnerten Julia an den einundneunzigsten Psalm. Julias Sonntagsschullehrerin hatte der Klasse erklärt, daß dieser Psalm die Menschen darauf hinweist, daß Gott alle Seine Kinder beschützt. Der vierte Vers gefiel Julia am besten: „Er wird dich mit seinen Fittichen decken, und Zuflucht wirst du haben unter seinen Flügeln.“
Julia wußte natürlich, daß Gott keine Fittiche oder Federn hat wie eine Henne. Auch kann man Gott nicht mit einem großen Menschen vergleichen, der irgendwo weit weg in den Wolken wohnt. In der christlich-wissenschaftlichen Sonntagsschule hatte Julia gelernt, daß Gott Geist ist, und weil Er Geist ist, ist Er überall. Und in der Bibel heißt es: „In ihm leben, weben und sind wir.“ Apg. 17:28. Wir sind alle Seine Kinder; und in Seiner Fürsorge sind wir geborgen.
Nach dem Abendessen setzten sich Julia und die Großmutter auf die Veranda, und Großvater schaukelte ihnen gegenüber in einem Schaukelstuhl. Julia und ihre Großmutter unterhielten sich, doch der Großvater war sehr ruhig. Dann hörten sie den Grillen und Fröschen zu. Als es dunkel war, gingen sie ins Haus, und die Großmutter zündete die Petroleumlampe an, damit sie sehen konnten, während sie sich fertigmachten, um zu Bett zu gehen.
Julia machte sich Sorgen um ihren Großvater. Sie wollte ihm gern helfen, deshalb sagte sie zu ihm: „Opa, weißt du nicht, daß Gott dich nicht krank gemacht hat?“
„Das stimmt, Julia, aber ich fühle mich gar nicht wohl“, seufzte er.
„Soll ich für dich beten, Opa?“
„Wenn du glaubst, daß es etwas nützt.“ Ihr Großvater ging nicht zur Kirche und dachte auch nicht viel über Gott nach, aber er hatte Julia lieb und wollte ihr nicht weh tun.
Als die Petroleumlampe ausgelöscht war und Julia in ihrem warmen Federbett lag, begann sie zu beten. Sie bat Gott nicht, daß Er ihren Großvater gesund machen solle. Sie wußte, daß Gott von Krankheit nichts weiß; Er kennt nur das Gute.
Julia betete ungefähr so: „Lieber Gott, ich weiß, daß Du hier bei uns bist, weil Du überall bist. Ich weiß, daß Du alle Deine Kinder liebhast, auch Großvater. Ich weiß, daß Du gut bist und nur Gutes geschaffen hast. Du kannst nichts Böses wie Krankheit und Schmerzen machen, darum sind sie nicht einmal wahr. Sie sind nur Irrtümer oder Fehler. Wie die Fehler, die ich manchmal in der Schule im Rechenunterricht mache. Die Lehrerin hilft mir, diese Fehler zu verbessern. Lieber Gott, zeige Du doch dem Großvater, wie er einen Fehler berichtigen kann, daß er nicht zu glauben braucht, Dein Kind könne krank sein.“
Als Julia sich zum Schlafen in ihr Federbett kuschelte, fühlte sie sich von den „Fittichen“ der Liebe umgeben. Sie dachte: „Gott bedeckt uns drei mit Seinen Fittichen — mit der Zärtlichkeit Seiner Liebe —, und ,unter seinen Flügeln' haben wir Zuflucht.“
Als Julia am nächsten Morgen erwachte, hörte sie, wie jemand Holz sägte; aus der Küche kam der Duft von gebratenem Speck, und der Großvater pfiff beim Sägen vor sich hin. Seine Schmerzen und das Unbehagen waren verflogen, wie der Rauch aus dem Kamin.
Julia fiel noch ein anderer Vers aus dem einundneunzigsten Psalm ein: „Er ruft mich an, darum will ich ihn erhören.“ Ps. 91:15. Nun wußte sie, daß das wirklich stimmte.