In einem Zeitungsartikel, der die einander widersprechenden Ansichten der Verhaltensforscher über die Bedeutung der Schuld erörterte, wurde ein Test beschrieben, der die Neigung zu Schuldgefühlen messen sollte. Der Teilnehmer wurde u. a. darum gebeten, den Satz: „Wenn ich Ehebruch beginge“ durch eine der folgenden beiden Schlußfolgerungen zu ergänzen: (1) „... hoffe ich, daß ich dafür streng bestraft würde“ oder (2) „... hoffe ich, daß ich Vergnügen daran hätte.“ The New York Times, 24. Juli 1979.
Eine interessante Frage! Wie würden Sie antworten? Die beste Antwort ist natürlich: „Ich würde erst gar keinen Ehebruch begehen.“ Doch diese Frage berührt einen wichtigen ethischen Punkt. Sollte sich jemand schuldig fühlen, wenn er etwas Falsches tut?
Ein Vorfall in Mrs. Eddys Leben wirft ein interessantes Licht auf das Problem der Schuld. Man hatte ihr erlaubt, Präsident Garfields Mörder in seiner Gefängniszelle zu besuchen. In ihrer Beschreibung dieses Besuches sagt sie: „Er war sich seines Verbrechens nicht bewußt, vielmehr hielt er seine Tat für gerecht und sich selbst für ein Opfer. Meine wenigen Worte rührten ihn, er sank kraftlos und bleich auf seinen Stuhl zurück, seine Geschwätzigkeit hatte aufgehört. Der Wärter dankte mir und sagte: ‚Andere Besucher haben ihm Blumen gebracht, aber Sie haben ihm gebracht, was ihm guttun wird.‘ “ Vermischte Schriften, S. 112.
Mrs. Eddy erwähnt die „wenigen Worte“ nicht, die sie zu dem Mörder gesprochen hatte, doch anscheinend bewirkten sie, daß er sich bis zu einem gewissen Grade seines Verbrechens bewußt wurde. Der Frieden der Mentalität war jetzt gestört, ja vielleicht kamen sogar die ersten Gewissensbisse. War das, was Mrs. Eddy getan hatte, herzlos? Nein! Ihre Demonstration der göttlichen Liebe reichte weit über jene blasse Auffassung von Liebe hinaus, die dem Mörder Blumen brachte.
Dieses bekümmerte Gewissen und das Leiden können schließlich zu der Erkenntnis führen, daß ein bestimmtes Verhalten falsch war und daß nur Reue und Umwandlung Sünde und Leiden zerstören. Christus Jesus sagte: „Ihr sollt nicht wähnen, daß ich gekommen sei, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert... Und des Menschen Feinde werden seine eignen Hausgenossen sein.“ Matth. 10:34, 36. In dem läuternden Licht des Christus, der Wahrheit, sehen wir die Sünden, die wir in unser Haus (unser Bewußtsein) eingelassen haben, als die Feinde, die sie tatsächlich sind. Der trügerische Frieden ist gebrochen, und durch geistigen Kampf und Gottes Gnade erlangen wir unsere Freiheit.
Da das fleischliche Gemüt seine Sünden nicht gern aufdeckt, kann die Qual eines schuldbeladenen Gewissens eine notwendige Züchtigung sein, durch die wir uns des Anspruchs bewußt werden, den die Sünde auf uns erhoben hat. Obwohl dieses Leiden beklagenswert erscheinen mag, so ist doch eine ehrliche Einschätzung unseres falschen Verhaltens dem moralischen Schwachsinn bei weitem vorzuziehen, der gegen das Böse blind ist und mit der Sünde in Frieden lebt.
Und doch ist die Reue über Unrechttun nur der Anfang. Wenn die Sünde einmal aufgedeckt ist — entweder durch den Christus oder durch das Leiden, das die Sünde unvermeidlich mit sich bringt —, dann müssen wir den nächsten Schritt tun und den Anspruch, den die Sünde auf uns erhebt, leugnen und ihre Nichtsheit durch einen echten Charakterwandel beweisen. Dies ist der einzige angemessene Beweis, daß wir tatsächlich die Sünde bereuen. Mrs. Eddy erklärt in Wissenschaft und Gesundheit: „Betrübtsein über Unrechttun ist nur ein Schritt zur Besserung, und zwar der allerleichteste. Der nächste und große Schritt, den die Weisheit von uns fordert, ist der Beweis unserer Aufrichtigkeit, nämlich Umwandlung.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 5.
Es überrascht nicht, daß die fleischlichen Elemente des menschlichen Gemüts, die uns daran hindern möchten, die Sünde als Sünde zu erkennen, uns auch immerdar an die Schuld fesseln wollen, damit der „nächste und große Schritt“ der Umwandlung hinausgezögert wird. Ständige Buße und Wiederholung der Sünde mag zu einem Gefühl der Hoffnungslosigkeit führen — einem Gefühl, daß echte Erlösung nicht möglich sei.
John Bunyan beschreibt in seinem Buch Pilgerreise diesen Gemütszustand sehr treffend als den „Mann in einem eisernen Käfig“. In dieser großen christlichen Allegorie symbolisiert der eiserne Käfig die Verzweiflung. Der arme Bursche in dem Käfig hat sich so von seinen Sünden überwältigen lassen, daß er sich völlig in ihnen gefangen fühlt und alle Hoffnung aufgegeben hat, je wieder frei zu sein. Als der Pilger Christ fragt: „Wie, kannst du denn jetzt nicht noch Buße tun und dich bekehren?“, antwortet der Mann im Käfig: „Gott läßt mich keinen Raum mehr finden zur Buße... Ja, er selbst hat mich in diesen eisernen Käfig eingeschlossen; und kein Mensch in der ganzen Welt kann mir daraus helfen.“ John Bunyan, Pilgerreise (Lahr-Dinglingen: St.-Johannes-Druckerei Z. Schweickhardt, 1967), S. 50.
Sieht das nicht dem sterblichen Gemüt ähnlich, die Möglichkeit der Erlösung zu leugnen und dann Gott die Schuld zu geben? Haben wir uns nicht alle schon bisweilen in „eiserne Käfige“ der Schuldgefühle und Verzweiflung eingesperrt, weil wir Unrecht taten oder Fehler begingen und dann glaubten, daß „kein Mensch in der ganzen Welt“ uns daraus helfen könne? Dieses selbstauferlegte Leiden ist sinnlos. Es frönt nur der Sünde, indem es uns weiterhin in Selbstverdammung und Schuldgefühlen schwelgen läßt, während die Umwandlung hinausgezögert wird.
Befreien wir uns doch von dieser falschen theologischen Vorstellung! Die Wahrheit ist, daß wir immer von Sünde und Schuldgefühlen befreit werden können. Ganz gleich, wie schwarz die Sünde, wie häufig jemand gestrauchelt sein mag, das Herz, das wirklich bereut, kann immer die rettende Gnade finden, wenn es Gott recht versteht. Ja, das rechte Verständnis von Gott, das Er uns durch Seinen Christus verleiht, ist unser ewiger Erlöser und wird uns aus allen „eisernen Käfigen“ oder jeder Hölle befreien, die das sterbliche Gemüt geschaffen hat.
Unsere geliebte Führerin, Mrs. Eddy, schreibt: „Wenn ein hochmütiges Bewußtsein, das sagt, ‚es gibt keine Sünde‘, erwacht ist und durch die Maske der Sünde hindurch den Anspruch der Sünde sieht und daher erkennt, daß die Sünde keinen Anspruch hat, gibt es einer schmerzlichen Überzeugung nach — es sitzt in Sack und Asche — es wartet in der Wüste — und fastet in der Einöde.“ Und dann folgt die tröstliche Zusicherung: „Doch während dieser ganzen Zeit hat die göttliche Liebe für dieses erwachte Bewußtsein ein Fest bereitet.“ Botschaft an Die Mutterkirche für 1900, S. 15.
Welch eine Ermutigung für den lebensmüden, nach dem Himmel hungernden Pilger unserer Zeit! Wie schmerzlich unsere Wüstenerfahrung auch erscheinen mag, sie bereitet uns darauf vor, die Sünde abzulegen und das rechte Verständnis von Gott zu gewinnen, der uns erlöst und „die Jahre erstatte[t], deren Ertrag die Heuschrecken ... gefressen haben“ Joel 2:25.. Der Liebe Fest besteht darin, uns die rechten Ideen — oder geistiges Verständnis — zu verleihen. Dieses Verständnis ist nicht menschlich, sondern göttlich. Und es bringt die tröstliche Gewißheit mit sich, daß Gott, das Gute, absolut nichts von Sünde oder einem Sünder weiß.
Wenn Gott die Sünde kennen würde, dann würde Seine unendliche Gegenwart und Macht die Sünde zu einer unendlichen Wirklichkeit machen, vor der es kein Entrinnen gäbe. Die Hölle wäre allgegenwärtig und ewig, und wir könnten uns niemals von der Sünde lösen. Doch die erhabene Güte und Unendlichkeit der Liebe verhindern die Existenz der Sünde. Daher finden wir unsere Freiheit von jeder Form des Bösen in dem geistigen Verständnis, das die Sünde durch die Erkenntnis zerstört, daß diese keine endgültige Wirklichkeit hat. Wenn wir Gottes rechte Idee, Seine intelligente Widerspiegelung, erfassen, wird der Sünde die einzig mögliche Vergebung zuteil, die ihr zusteht, nämlich ihre Zerstörung, weil sie nicht verkörpert wird.
Die Tatsache, daß Gott weder Sünde noch Sünder kennt, sollte uns jedoch nicht zu der Schlußfolgerung verleiten, Er sei von uns und unseren Schwächen weit entfernt. Auch sollten wir Ihn nicht für ein abstraktes Prinzip oder eine nichtssagende Einheit halten, der es an Gemüt und Individualität mangele. Gott ist Gemüt, unendliche person, und durch Seine Allheit wird Er zu einer immergegenwärtigen persönlichen Hilfe, die so nahe ist wie unsere Gedanken. Ja, unsere eigentliche Person oder bewußte Individualität rührt von der Tatsache her, daß Er Person und Prinzip ist — individuell und allumfassend.
Wenn wir unseren persönlichen Gott um etwas bitten, fühlen wir, daß sich uns Seine Liebe auf die allerengste und zärtlichste Weise kundtut — z. B. als das Erscheinen der rechten Ideen und des geistigen Verständnisses, die in unserer unsterblichen Identität als Widerspiegelung des Gemüts enthalten sind. In dieser Widerspiegelung sehen wir uns, wie unser himmlischer Vater uns kennt — und am erhabensten ist, daß wir unseren anbetungswürdigen Vater so sehen, wie Er ist.
Gottes Liebe kommt nicht von außerhalb des wahren Seins oder Bewußtseins; der Mensch schließt alle göttlichen Ideen und Eigenschaften ein und spiegelt Gottes unendliche Vollständigkeit wider. Man könnte sagen, daß Gottes Antwort auf alle unsere Gebete folgendermaßen lautet: „Mein geliebtes Kind, erschaue, was du im Gemüt, in der Wahrheit, in der Liebe wirklich bist.“ Das heißt, durch das geistige Verständnis, das Gott verleiht, wird uns klar, was unser geistiges Selbst ausmacht. Wir erkennen, was Gott ist und was Er tut, und dieses rechte Verständnis ist unser Erlöser und Befreier, der uns Freude und Frieden über alle Maßen bringt.
Das bedeutet praktisch, daß jede Sünde oder falsche Annahme, die Anspruch auf unsere Identität erhebt, zerstört werden kann, und zwar dadurch, daß wir Buße tun und das gottverliehene rechte Verständnis von dem erlangen, was wir in Wirklichkeit im Gemüt, im Geist, sind. Keine Krankheit ist unheilbar. Keine Sünde ist in alle Ewigkeit unverzeihlich. Jeder Irrtum — oder jede Unwissenheit — wird durch die rechte Idee beseitigt, durch ein Element unseres wahren Seins, das uns bewußt wird und uns erlöst. Rechte Ideen bringen uns immer das Bewußtsein vou der Wirklichkeit, das heilt.
In dem Maße, wie wir durch christliche Jüngerschaft in unserem Verständnis wachsen, werden wir Gottes große Liebe zu Seiner Schöpfung immer mehr fühlen. Wir werden zu spüren beginnen, daß wir tatsächlich das Ebenbild der Liebe sind — Gottes gehorsames Kind. Wenn die bewußte Kundwerdung der Liebe erscheint — unser wahres Selbst —, werden unsere Zuneigungen und unsere Wünsche so bereichert, daß unser erhobener geistiger Sinn die scheinbaren Freuden der Sünde verabscheut. Böse Gedanken und Neigungen können nicht lange in der glühenden Hitze eines Lebens existieren, das der Heilige Geist oder der göttliche Tröster, wie er in der Christlichen Wissenschaft offenbart wird, entflammt hat. Jeder Irrtum und jede Begrenzung des Gemüts und des Körpers muß sich schließlich in Nichts auflösen, wenn die erhebende Taufe des Christus, der Wahrheit, Gott, das göttliche Gemüt, und unser unkörperliches Sein als Seine zusammengesetzte Idee ans Licht bringt.
In der Christlichen Wissenschaft ist Reue über Unrechttun ein unvermeidlicher Schritt auf dem Wege zur Besserung. Nur der moralisch Schwachsinnige spürt keine Gewissensbisse angesichts seiner Missetat. Doch sich in Schuldgefühlen und Selbstverdammung zu verstricken, ist ebenso unwissenschaftlich und unchristlich wie Blindheit gegen die Sünde. Der Plan der Wahrheit ist immer, zu erlösen, zu erheben und wiederherzustellen.
Wenn also Wahrheit die Sünde aufdeckt und uns unser Gewissen quält, brauchen wir die Hoffnung nicht aufzugeben und in einen „eisernen Käfig“ zu klettern und die mentale Tür hinter uns zuzuschlagen. Die Züchtigung durch die Wahrheit kündet immer das Erscheinen des Festes der Liebe an — das Erfassen Gottes erlösender, tröstender Christus-Idee. Diese rechte Idee öffnet jeden „eisernen Käfig“ der Sünde oder Krankheit, in dem wir uns befinden mögen, und heißt uns, die Wahrheit des Seins in uns aufzunehmen. Der wahre Mensch — Ihr und mein geistiges Selbst — existiert allein im Gemüt und erfreut sich der grenzenlosen Freiheit der niemals endenden Entfaltung des Gemüts.
