Im Jahre 1900, in einer Zeit der harten Prüfung, machte Mary Baker Eddy eine Aussage von tiefer, herausfordernder Bedeutung: „Millionen von Menschen mögen wissen, daß ich die Gründerin der Christlichen Wissenschaft bin. Ich allein weiß, was das bedeutet.“ Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes, S. 249.
Sie hatte der Welt in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift ihre umwälzende geistige Entdeckung vorgelegt. Warum — so mögen wir fragen — opferte sie dann noch Jahre unablässiger Arbeit, beharrlichen Ringens und nie versiegender Inspiration und Liebe, um ... eine Kirche zu gründen?
Heutzutage, wo Angriffe gegen geistige Autorität so weit verbreitet sind und die Kirche Christi, Wissenschafter, verhältnismäßig viel aggressiven Widerstand erfährt, mag es besonders wertvoll sein, die ungewöhnlichen Schritte besser zu verstehen, die Mrs. Eddy von ihrer anfänglichen Offenbarung der Wahrheit zu deren organisiertem Ausdruck in Form einer christlichen Glaubensgemeinschaft führten.
Als unsere Führerin Wissenschaft und Gesundheit zu schreiben begann, war sie keineswegs davon überzeugt, daß es notwendig sein würde, eine neue Kirche zu gründen, um das menschliche Denken zum rechten Verständnis und zur Demonstration der radikalen geistigen Lehrsätze des Buches zu erziehen. Es ist oft darauf hingewiesen worden, daß sie in der ersten Ausgabe, die 1875 erschien, sogar den Standpunkt vertrat — der allerdings aufgrund neuer Einsichten bald wieder aufgegeben wurde —, daß die Jünger Jesu mit der Einführung „religiöser Organisationen und kirchlicher Riten“ einen Fehler gemacht hätten.
Doch schon vier Jahre später erkannte Mrs. Eddy, daß es notwendig war und zu Gottes Offenbarung der erlösenden Mission ihrer Entdeckung gehörte, die Kirche Christi, Wissenschafter, zu gründen — eine Kirche, „die den Zweck haben sollte, die Worte und Werke unseres Meisters in Erinnerung zu bringen und dadurch das ursprüngliche Christentum und sein verlorengegangenes Element des Heilens wiedereinzuführen“ Handbuch Der Mutterkirche, S. 17.. Zu viele Neulinge — die sich von ihren Lehren angezogen fühlten, aber nicht bereit waren, die Forderungen zu akzeptieren, die für jedes ernsthafte wissenschaftliche Bestreben ebenso unerläßlich sind wie für jedes wahre christliche Engagement — beschlossen, ihren eigenen Weg zu gehen. Die Folge davon war, daß sie zu Verfechtern persönlicher Versionen von der Christlichen Wissenschaft wurden, die weder christlich noch wissenschaftlich waren. Solche Entstellungen erwiesen sich als gefährlich für die Öffentlichkeit, sie führten aufrichtige Sucher nach der Wahrheit irre und brachten das geistige Wachstum derjenigen, die diese Ansichten vertraten, zum Stillstand.
Einem Schüler, der sich 1887 von der Kirche abwandte, weil er eine Organisation nicht länger für nötig hielt, schrieb Mrs. Eddy: „Nach über zehnjähriger Erfahrung und einem Erfolg, der den Ihren weit übertrifft, habe ich gelernt, daß diese große Sache nur durch eine Organisation dem Menschengeschlecht erhalten und vor dem vernichtenden Einfluß jener, die gegen eine Organisation sind, geschützt wird. Der Apostel vergleicht die Kirche mit dem Leib Christi. Ich vergleiche das Blut Christi mit dem Leben der Wahrheit. Wenn Sie also Seine Kirche auflösen wollten, würden Sie dann nicht Seinen Leib zerstören und Sein Blut vergießen?“ Zitiert in Robert Peel, Mary Baker Eddy: The Years of Trial (New York: Holt, Rinehart and Winston, 1971), S. 203.
Warum löste sie dann aber nur zwei Jahre später die Kirche in Boston wieder auf?
Seit geraumer Zeit — vielleicht von Anfang an — hatte Mrs. Eddy weitaus mehr erschaut als nur eine „Bostoner“ Kirche. Gegen Ende der achtziger Jahre des neunzehnten Jahrhunderts begann sie, diese Kirche als die „Mutter“-Kirche der Bewegung zu bezeichnen. Diese mehr universale Funktion kam deutlich in einer Erklärung zum Ausdruck, die sie in der Ausgabe des Christian Science Journals vom April 1889 abgab: „Ich möchte auch meinen Schülern in aller Welt, ob sie nun an meinen Kursen teilgenommen haben oder durch das Lesen meiner Bücher unterrichtet worden sind, sagen, daß sie auf schriftlichem Wege, ohne persönlich anwesend sein zu müssen, Mitglieder der ‚Mutterkirche‘ hier in Boston werden und in ihre Gemeinschaft aufgenommen werden können.“
Doch gerade dieses Streben nach Universalität machte deutlich, daß eine drastische Veränderung der Organisation notwendig war. Bis zu diesem Zeitpunkt war ihre Kirche gemäß der in Neuengland üblichen Selbstverwaltung durch die Gemeinde regiert worden. So ausgezeichnet dieses System für eine einzelne Kirchengemeinde sein mag, die nach der Methode des praktischen Herumprobierens vorgeht und demokratisch aus ihren eigenen Fehlern lernt, so unzulänglich war es jedoch für eine Kirche, die die grundlegenden Verfahrensregeln und Maßstäbe für eine weltweite Bewegung festlegen mußte — eine Bewegung, die sich zu einem revolutionären Kampf gegen die fundamentalen Voraussetzungen eines individuellen und institutionalisierten Materialismus verpflichtet hatte.
Wenige Kirchenmitglieder in Boston verstanden die Tragweite der Vision Mrs. Eddys und das Ausmaß der geistigen Umwandlung, das die Sache, der sie sich verschrieben hatten, von ihnen verlangte. Nur dadurch, daß sie sich strikt an Mrs. Eddys geistige Führung hielten, konnten sie sich ihr Gleichgewicht bewahren inmitten der Zwietracht und Rebellion, die 1888 unter ihnen entstanden waren und versucht hatten, ihrer Führerin die Kirche aus der Hand zu nehmen.
Durch ihr Gebet und die sich entfaltende geistige Vision wurde es Mrs. Eddy klar, daß die Kirche auf etwas Besserem beruhen mußte als auf den sich wandelnden menschlichen Meinungen, wenn diese auf jeder neuen Entwicklungsstufe der göttlichen Offenbarung weichen sollten. Sie mußte von derselben geistigen Reinheit geprägt werden, die die ursprüngliche Offenbarung empfangen hatte. Was wirklich auf dem Spiel stand, war die Fortdauer der geistigen Führerschaft der Entdeckerin der Christlichen Wissenschaft.
Zu jener Zeit und in den darauffolgenden drei Jahren äußerte Mrs. Eddy sich mehrmals öffentlich und privat über die Gefahren einer „materiellen“ Organisation. Wenn diese Aussagen im Zusammenhang ihrer Entwicklung betrachtet werden, wird klar, daß sie weder auf eine Unschlüssigkeit Mrs. Eddys noch auf ihren Widerstand gegen alle Organisation an sich hinweisen. Im Gegenteil, sie zeigen Mrs. Eddys festen Entschluß, eine geläuterte Kirche mit geistigem Fundament zu schaffen, die der Materialismus nicht für seine eigenen Zwecke gewinnen konnte. Sie hatte immer vor Augen, wie materiell das Christentum im Laufe der Jahrhunderte geworden war, trotz gelegentlicher Perioden geistiger Erneuerung. Es mußte verhindert werden, daß sich die Geschichte hinsichtlich der Wissenschaft des Christentums wiederholte.
Im November 1889 sandte Mrs. Eddy einem ihrer Schüler einen Brief, der oberflächlich betrachtet den Anschein vermittelt, als hätte sich ihre 1875 vertretene Position ins Gegenteil verkehrt; in Wirklichkeit aber weist sie darin auf eine neue Art von Organisation hin, die sich aufgrund ihres Lauschens und Betens gerade erst in ihrem Denken entfaltete. Der Brief enthielt eine Bemerkung, die wie eine Bombe einschlug: „Diese Mutterkirche muß sich auflösen, und jetzt ist der Zeitpunkt gekommen, das zu tun und keine neue Organisation zu schaffen außer der geistigen.“ Zitiert in Norman Beasley, The Cross and the Crown: The History of Christian Science (New York: Duell, Sloan and Pearce, 1952), S. 213.
Einige Tage später folgte der Beschluß der Mitglieder, die Bostoner Organisation aufzulösen. Das bedeutete praktisch, daß die Mitgliedschaft ihren Status als beschlußfassendes Gremium verlor — mir anderen Worten, die Aufgabe der Selbstverwaltung als Regierungsform der Kirche. Es wurden weiterhin regelmäßig Gottesdienste abgehalten, und zwar unter der Führung eines Vorstands, der von Mrs. Eddy ernannt wurde, anstatt von einer organisierten Mitgliedschaft gewählt zu werden. In diesem Übergangsstadium behielt die Gruppe den Namen „Kirche Christi, Wissenschafter“ bei, und ihre ursprüngliche Absicht, die 1879 ausgestellte Gründungsurkunde wieder preiszugeben, wurde tatsächlich nie ausgeführt.
Gleichzeitig setzte Mrs. Eddy ihre Bemühungen fort, das Eigentumsrecht an dem Grundstück in Boston zu sichern, auf dem ein Kirchengebäude errichtet werden konnte, sobald genügend Gelder aus dem Feld eingegangen waren. Im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn bereitete sie den Boden für die Errichtung einer „Mutter“-Kirche für die wachsende Bewegung vor. Aber während dieser ganzen Zeit hielt sie sich alle Möglichkeiten offen, um die Regierungsform akzeptieren zu können, die Gott ihr als die geistig richtige für eine solche Kirche offenbaren würde.
Doch während sie noch dabei war, die Selbstverwaltung der Kirche aufzuheben, autorisierte sie z. B. die Mitglieder des Vorstands der Christlichen Wissenschaft, neue Vorstandsmitglieder selbst zu wählen; sie ermächtigte den Vorstand, „eine Kirche in der üblichen Form zu organisieren“, sollte er das „zu irgendeinem Zeitpunkt“ Treuhand- und Übertragungsurkunde, 17. Dezember 1889. wünschen. Ihre Bereitschaft, die Richtung einzuschlagen, die das Gemüt ihr im Laufe der Ereignisse weisen würde, war offensichtlich. Zwei Jahre später schrieb sie im Rückblick auf die Veränderungen, die die Auflösung von 1889 mit sich gebracht hatte: „Nach dieser Erfahrung und der Erfüllung des göttlichen Planes auf diesem sich wandelnden Szenarium mag diese Kirche es für weise halten, sich ein zweites Mal zu organisieren, um ihre geschichtliche Entwicklung zu vollenden. Dies bleibt jedoch der Vorsehung Gottes überlassen.“ Rückblick und Einblick, erste Ausgabe, S. 58.
In den folgenden Jahren arbeitete, wachte und wartete Mrs. Eddy — vor allem aber betete sie. Während dieser Zeit warnte sie verschiedentlich vor den Gefahren einer „materiellen“ Organisation, wies aber jedesmal zugleich darauf hin, daß enormes geistiges Wachstum und viel Demonstration erforderlich sei, bevor jede Form von menschlicher Organisation aufgehoben werden könne.
Eine der ersten Erklärungen dazu erschien im Dezember 1889 im Journal: „Im Anfang ist eine sichtbare Organisation notwendig, aber wenn sie ihren Zweck erfüllt hat, muß die rein christliche Weise des Lehrens und Predigens aufgenommen werden. Aufgrund desselben Prinzips macht ihr auch weiterhin bei der Ausübung des christlichen Heilens von dem mentalen Argument Gebrauch, bis ihr ohne dieses augenblicklich und durch Geist allein heilen könnt.“ Vermischte Schriften, S. 359. Siehe auch Rückbl. 45:9.
Weder in dieser noch in irgendeiner anderen Erklärung über die Kirche, die Mrs. Eddy in jenen Jahren abgab, verlangte sie die Selbstzerstörung der Organisation, damit der von Christus Jesus gesetzte Maßstab der Vollkommenheit erreicht werde. Sie machte es ganz klar, daß Geistigkeit Schritt für Schritt demonstriert werden mußte — z. B. durch das Heilen des Körpers, nicht durch seine Vernichtung —, und das galt für einen organischen physischen Körper ebenso wie für eine organisierte Körperschaft gläubiger Christen. Selbst der größte Heiler aller Zeiten gab seinen menschlichen Körper erst auf, als er auch das letzte Argument der Materialität widerlegt und sich darüber erhoben hatte. Siehe „Eine Berichtigung“, Verschiedenes, S. 217.
In Mrs. Eddys Handlungen und Äußerungen wies nichts darauf hin, daß sie glaubte, die christlich-wissenschaftliche Bewegung hätte den Punkt der demonstrierten Geistigkeit erreicht, den Jesu endgültige Erhebung über das Fleisch darstelle. Im Gegenteil, es gab unter ihren Anhängern noch manche sehr menschliche Meinungsverschiedenheit. Es war ihr klar, daß sie aufmerksam auf Gottes Stimme lauschen mußte, bevor sie irgendwelche entscheidenden Schritte zur Gründung Der Mutterkirche in Boston unternehmen konnte, die ihrer Vorstellung nach die ganze Bewegung vereinigen und beschützen sollte. In der Zwischenzeit ermutigte sie die Christlichen Wissenschafter in anderen Städten, weiterhin örtliche Kirchen nach dem Gebot: „Laß es jetzt also geschehen“ zu gründen. Siehe Verm. 90:22–91:20. Die Demonstration christlicher Verbundenheit im Feld mußte den Weg für die gewaltige geistige Demonstration vorbereiten, die nun von ihr als Gründerin verlangt wurde.
Anfang 1892 drängten ihre miteinander disputierenden Schüler sie in die eine und die andere Richtung. Soweit das möglich war, versuchte sie, es ihnen zu überlassen, die Probleme, vor die sie durch die Errichtung einer Kirche gestellt waren, selbst auszuarbeiten. Einmal, als eine entschlossene Gruppe von Anhängern auf eine Form der Reorganisation drängte, die möglicherweise wieder einige der alten Schwierigkeiten herbeigeführt hätte, schrieb sie ihnen: „Reorganisiert die Kirche... Wenn wir es auf keine andere Weise lernen, ist dies Gottes Weg, uns zu belehren. Seine Rute allein wird es vollbringen.“ Zitiert in Peel, Mary Baker Eddy: The Years of Authority (New York: Holt, Rinehart and Winston, 1977), S. 17. Die Warnung genügte, um die Gruppe von dem Schritt abzuhalten.
Wie jedoch die Entwicklung zeigt, gelangte Mrs. Eddy im weiteren Verlauf des Jahres zu der Überzeugung, daß die Offenbarung der rechten, auf einer geistigen Basis ruhenden Regierungsform für ihre Kirche unmittelbar bevorstand. Ihre Anhänger sollten sich durch nichts daran hindern lassen, den Bau des sichtbaren Ausdrucks ihrer Kirche in Boston voranzutreiben. In der Juliausgabe des Journals schreibt sie mit zuversichtlicher Siegesfreude:
„Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, unser Gebet in Stein, wird die erfüllte Prophezeiung, das errichtete Denkmal der Christlichen Wissenschaft sein. Sie wird zu Euch sprechen von der Mutter und Eurer Herzenshingabe an sie, durch die Euch Gottes Allmacht, Allgegenwart und Allwissenschaft offenbart worden ist. Ist dieser Bau begonnen, wird er wachsen, und keiner kann seinetwegen leiden, denn keiner kann sich der Macht, die dahinter steht, widerstetzen; diesen Kirchentempel können die ‚Pforten der Hölle‘ nicht überwältigen.“ Verm., S. 141.
Schon wenige Wochen später kam der Augenblick, wo Mrs. Eddy den wissenschaftlich richtigen Schritt erkannte, den sie zur Verwirklichung ihrer langgehegten Vision von einer wahren Mutter-Kirche tun mußte. Wie schon oft zuvor, handelte sie sofort, obwohl sie die Entwicklung in allen ihren Einzelheiten durchaus noch nicht klar erkennen konnte. Im Vertrauen darauf, daß das göttliche Prinzip sie den ganzen Weg führen würde, bereitete sie Ende August 1892 die Regierungsform der Organisation vor, deren Zweck sie später im Handbuch Der Mutterkirche mit den kühnen und dennoch bescheidenen Worten zusammenfassen sollte:
„Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, in Boston, Mass., soll sich auf den Felsen, Christus, gründen, ja auf die Erkenntnis und Demonstration der göttlichen Wahrheit, des göttlichen Lebens und der göttlichen Liebe, die die Welt von Sünde und Tod heilen und erlösen; dadurch soll sie in gewissem Grade die universelle und triumphierende Kirche widerspiegeln.“ Handb., S. 19.
In welchem Grade die Kirche diesen völlig geistigen Bau widerspiegeln würde, mußte von der Klarheit abhängen, mit der die Christlichen Wissenschafter künftiger Jahre die Vision der Gründerin erschauen — und sie in ihrem Leben veranschaulichen konnten.
Im nächsten Monat: Die Gründung Der Mutterkirche
