Viele Menschen sind heutzutage der Ansicht, unsere Gesellschaft bedürfe einer neuen Orientierung. Haben Sie nicht auch schon die modernen Methodenlehren und das, was wir bisher Fortschritt genannt haben, in Frage gestellt? Bedeutet Fortschritt nur materiellen Erwerb, neue Technologien, einen ungezwungenen, bequemen Lebensstil? Oder bedeutet er nicht vielmehr auf Geist ausgerichtetes Wachstum? Müssen wir uns nicht neu orientieren und eine geistige Richtung einschlagen, um wirklich Fortschritte zu machen?
Neuorientierung. Es bedeutet, daß man etwas in Ordnung bringt; daß man innehält, um sich erneut zu orientieren und seinen Weg entsprechend zu ändern — wie ein Pfadfinder, der mit Hilfe eines Kompasses seine Richtung ändert, wenn er durch den Wald wandert. Betrachten wir die verschiedenen Möglichkeiten geistiger Neuorientierung auf zwei Ebenen: zuerst die allgemeine und kollektive, dann die individuelle und spezifische. Der „magnetische pol“ für diese Neuorientierung ist geistig; wir werden zu Gott, der Liebe ist, hingezogen.
Das Christentum, dessen zentrale Antriebskraft die göttliche Liebe ist, hat unsere Kultur, unser Geistesleben und unsere Geschichte weitreichend beeinflußt. Haben Sie jemals das Christentum als eine ungeheuere geistige Neuorientierung der westlichen Welt betrachtet, als eine der zweifellos größten „Kursänderungen“ der Geschichte? Viele intellektuelle Errungenschaften, die wir heute als selbstverständlich hinnehmen, sind auf den Einfluß, den das Christentum auf das menschliche Denken hatte, zurückzuführen. Einige Rechtsbegriffe wurden beispielsweise durch die in der Bergpredigt gelehrten Werte stark beeinflußt.
Die tiefste Bedeutung des Christentums ist jedoch manchmal verdunkelt worden. Warum dieser offensichtliche Verlust? Ist es möglich, daß der überstürzte Drang nach „Fortschritt“ zum großen Teil in der falschen Richtung verlief? Wir mögen tatsächlich unser Glück, das wir ja in seiner eigentlichen Bedeutung alle suchen, durch den Drang nach Fortschritt auf einer materiellen Basis blockieren — einer Basis, die die geistigen Grundsteine menschlichen Fortschritts und Wohlergehens größtenteils ignoriert.
Was können wir gegen diese allgemeine, materialistische Denkrichtung tun? Wie können wir zu einer Neuorientierung beitragen, die bei Geist, der allumfassenden Liebe, Zufriedenheit sucht und Schritte in dieser Richtung als Fortschritt betrachtet?
Glück und innere Zufriedenheit sind keine materiellen Güter. Sie können einfach nicht mit Hilfe der Technologie erzeugt werden. Auch hängen Zufriedenheit und Wohlergehen nicht von immer höherem Konsum und einer immer größeren Anhäufung materieller Güter ab. Selbst eine Überfülle materieller Güter ist keine Garantie für Glück. Mrs. Eddy schreibt in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift: „Erscheinungsformen der Materie bilden weder ein moralisches noch ein geistiges System. Die Disharmonie, die nach materiellen Methoden verlangt, ist das Ergebnis der Betätigung eines Glaubens an materielle Erscheinungsformen — eines Glaubens an die Materie anstatt an Geist.“ Und einige Abschnitte weiter zeigen uns ihre Worte einen Weg für die Neuorientierung unseres Bewußtseins: „Die einzige Frage, die in Betracht kommt, ist die geistige Ursächlichkeit, denn die geistige Ursächlichkeit ist mehr als alles andere mit menschlichem Fortschritt verknüpft.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 170.
Geistige Neuorientierung führt zu umfassenderen Demonstrationen göttlicher Harmonie in menschlichen Angelegenheiten. Wenn wir eine klarere Vorstellung von dem Tatsächlichen erlangen, von dem Göttlichen, von dem, was immer existiert, werden wir in gewissem Maße mehr von der harmonischen, geistigen Wirklichkeit anstelle der Illusionen und Begrenzungen des materialistischen Denkens erleben.
Christlich-wissenschaftliches Denken, das auf Geist, Liebe, als der einzigen Ursache beruht, trägt dazu bei, das Denken, das sich entweder in ungerechtfertigter Verdammung oder blinder Verherrlichung des technischen Fortschritts verstrickt hat, wieder in die richtige Bahn zu lenken. In dem Maße, wie sich die Menschheit erneut auf geistige Prioritäten orientiert, wird sie Weisheit erlangen und die notwendigen Schritte zur Lösung der heutigen drängenden Probleme erkennen. Und je mehr Metaphysiker in der Wissenschaft des Seins an der Arbeit sind, desto mehr breitet sich der Gärstoff aus, der das allgemeine menschliche Denken durchsäuert und erhebt.
Da sich das sogenannte kollektive Denken letzten Endes aus dem individuellen Denken eines jeden einzelnen zusammensetzt, müssen wir unser eigenes Bewußtsein läutern, damit wir zur Heilung der Nöte der Menschheit beitragen können. Lassen Sie uns daher zuerst das Wesen der menschlichen Wahrnehmung und dann die Entfaltung geistiger Wahrnehmung durch individuelle geistige Neuorientierung analysieren.
Was wir zunächst über die menschliche Wahrnehmung erkennen müssen, ist, daß sie nicht notwendigerweise von sogenannten objektiven Daten abhängt. Um das zu veranschaulichen: Wenn jemand sein Auge auf einen Gegenstand richtet, jedoch an etwas ganz anderes denkt, mag er diesen Gegenstand überhaupt nicht wahrnehmen, selbst wenn das Bild des Gegenstandes auf seine Netzhaut trifft. Was er aber in diesem Augenblick denkt, kann eine Klarheit und Wirklichkeit erlangen, die die physischen Sinne nicht bezeugen. Diese Klarheit hat nichts mit physischem Sehen, Hören, Fühlen, Schmecken oder Riechen zu tun, sondern ist völlig mental.
Ebensowenig stellen die physischen Empfindungen oder unverarbeiteten Daten, die durch die fünf materiellen Sinne vermittelt werden, tatsächliche Wahrnehmung dar. Sogar Beethovens mitreißende Neunte Sinfonie kann beispielsweise als ein Ärgernis empfunden werden, wenn der Hörer nicht ihre Tiefe und Schönheit in seinem Bewußtsein wahrnimmt. Rein akustisch betrachtet, besteht die Neunte Sinfonie ebenso aus Schallwellen, die unser Gehör erreichen, wie das Quietschen einer Straßenbahn, die um eine Kurve fährt.
Es ist wirklich absurd zu sagen: „Ich glaube nur das, was ich sehe.“ Den jüngsten Forschungsergebnissen zufolge „sehen“ wir, d. h. „gewahren“ wir nur etwa zehn Prozent dessen, was das Auge physisch aufnimmt. Die tatsächliche Wahrnehmung oder Interpretation nimmt allein das Bewußtsein vor, indem es die Reize auf der Netzhaut auswertet. Und diese Interpretation oder Wahrnehmung hängt größtenteils von der Erziehung, von vorgefaßten Meinungen und insbesondere von der Begriffswelt des einzelnen ab, von seiner kulturellen Umgebung und der Kulturepoche, in der er lebt. Und wenn wir noch weiter gehen, so haben die Entdeckungen der Quantenphysik einige Wissenschaftler zu der Frage bewogen, ob die Materie überhaupt eine von ihrem Betrachter getrennte, unabhängige Substanz oder Wirklichkeit habe.
Diese Tatsachen geben uns Stoff zum Nachdenken. Wenn wir erst einmal erkennen, daß unser Erleben im Grunde mental ist — sich im Bewußtsein vollzieht und durch das Bewußtsein bestimmt wird —, dann können wir besser verstehen, wie die Christliche Wissenschaft das Leben durch Änderung des individuellen Denkens verbessern kann. Doch Lichtjahre trennen die Christliche Wissenschaft von der Vorstellung, es handele sich lediglich um eine willentliche Beeinflussung der Materie. In der geistigen Neuorientierung beginnen wir die geistigen Ideen wahrzunehmen, die das göttliche Gemüt empfangen hat, das ja durch Widerspiegelung unser Gemüt ist. Das göttliche Gemüt teilt diese Ideen ununterbrochen mit, die nur der geistige Sinn erfaßt. Durch Gebet mögen wir beispielsweise erkennen, daß die Schöpfung kein historisches Ereignis ist, sondern ein beständiges, von Liebe getragenes Sichmitteilen des göttlichen Gemüts. Schon ein geringes Verständnis dieser Tatsache kann unserer menschlichen Wahrnehmung und somit unserer Erfahrung eine neue Richtung geben.
Der geistige Ausblick, den die Christliche Wissenschaft vermittelt, weist eindeutig auf die völlige Substanzlosigkeit der Materie hin. Das bedeutet aber nicht, daß wir die nützlichen oder guten Eigenschaften, die in unserer gegenwärtigen Umgebung zum Ausdruck kommen, geringschätzen oder verachten sollten. Wenn wir von der geistigen Ursache ausgehen, entfernen wir uns Schritt um Schritt von dem Denken, das sich auf Materie gründet, und nähern uns der wahren geistigen Wahrnehmung. Die Dinge werden dann immer mehr in ihre ursprüngliche, geistige Bedeutung zurückübertragen. Selbst wenn sie für das Auge materiell zu sein scheinen, nehmen wir deren wahre Substanz im Geist wahr. Folglich wissen wir unsere gegenwärtige Umwelt zu schätzen und gehen sorgfältig mit ihr um. Auf welche andere Weise wird das höhere, geistige Wesen der Dinge — deren geistige Substanz und Wesen Liebe ist — auf praktische Weise besser wahrnehmbar werden? Christus Jesus versichert uns im Lukasevangelium: „Wer im Geringsten treu ist, der ist auch im Großen treu; und wer im Geringsten unrecht ist, der ist auch im Großen unrecht. So ihr nun mit dem ungerechten Mammon nicht treu seid, wer will euch das wahre Gute anvertrauen?“ Luk. 16:10, 11.
Wir sollten daher mehr an das denken, was wir sind und was wir tun, als an das, was wir haben. Alle materiellen Dinge werden unvermeidlich vergehen. Aber alles, was als die Widerspiegelung des göttlichen Gemüts sind, bleibt ewiglich bestehen. So ist es sicherlich in unserem besten Interesse, gerade jetzt damit zu beginnen, unser Denken auf die Eigenschaften und Werte des geistigen Seins neu auszurichten. Beständig die Dinge als materiell anzusehen hindert unseren Einblick in die tatsächliche Substanz der Dinge, die Geist ist. Der unveränderliche, ewige Wert aller Dinge liegt in dieser wahren Substanz, ihrem inneren Wert. Wir müssen, wie Jesus uns sagte, zuerst nach dem suchen, was wir geistig gesehen in Gottes Reich sind, dann wird uns alles, was wahrhaft wertvoll ist, zufallen. Wir werden alles, was wir benötigen, in der Form erhalten, in der wir es jetzt brauchen.
Alles, was um uns her und in uns gut und schön ist, deutet auf ein geistiges Ganzes hin, das in seiner Unendlichkeit unergründlich ist. Der geistige Sinn deutet die Dinge geistig und erkennt die Einheit und Unendlichkeit der Schöpfung der Liebe. Wenn wir uns auf die geistige Quelle unseres Seins, die göttliche Liebe, orientieren, wird sich Harmonie und Zufriedenheit im Leben des einzelnen wie auch der Gemeinschaft zeigen.
Unsere Freude an Dingen, die eigentlich Gedanken sind, wird immer größer, je mehr wir die geistigen Eigenschaften erkennen, die sie zum Ausdruck bringen. Auch werden wir von ihren äußeren Erscheinungsformen unabhängiger. Unser wahres Vermögen ist das Gute, das wir ausdrücken. Unser wahrer Reichtum besteht in dem, was wir tun können, wenn wir erkennen, was wir als Widerspiegelung, als Kinder Gottes sind. Diese geistige Fülle macht unser Wohlergehen aus und trägt zum Wohlergehen anderer bei.
Dadurch, daß wir die geistige Natur der Schöpfung wahrnehmen, ersetzen wir immer mehr das auf Materie beruhende Denken durch die Idee der Etwasheit, ja der Allheit des geistigen Seins. Das ist die Kursänderung, die geistige Neuorientierung, die beständigen Fortschritt ermöglicht. Wenn Fortschritt auf geistiger Grundlage gesucht wird, führt das zu bislang ungeahnten Möglichkeiten — zu Harmonie, Gesundheit und zur Demonstration des Himmelreichs in uns, die den einzelnen und die ganze Menschheit segnet.
... er zog aber seine Straße fröhlich.
Apostelgeschichte 8:39