Bei Sonnenuntergang war der junge Mann so weit gegangen, wie er konnte. Er hatte sein Vaterhaus verlassen, um dem rachsüchtigen Zorn eines Bruders zu entgehen, dem Unrecht geschehen war; und auf der Flucht war er an einem einsamen Ort angelangt. Wahrscheinlich zum ersten Mal in seinem Leben sah er sich der harten Wirklichkeit einer ungewissen Zukunft in einer fremden Umgebung ohne den Schutz von Familie und Freunden gegenüber. In der Bibel geht die Geschichte von Jakob weiter, und zwar mit der schlichten Erklärung: „Und er nahm einen Stein von der Stätte und legte ihn zu seinen Häupten.“ 1. Mose 28:11.
Welch ein Unterschied besteht zwischen einem Stein und einem Kissen! Der Stein ist hart, unnachgiebig; das Kissen ist eine bequeme Stütze und bietet Entspannung. Wie kann, metaphysisch gesehen, ein Stein zu einem Kissen werden? In Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift sagt uns Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Gründerin der Christlichen WissenschaftChristian Science (kr´istjən s’aiəns): „Die Metaphysik löst Dinge in Gedanken auf und tauscht die Dinge des Sinnes gegen die Ideen der Seele ein.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 269.
Als ich einmal nach einer neuen Erkenntnis suchte, kam gerade die Geschichte von Jakob in der Bibellektion vor, die im Vierteljahrsheft der Christlichen Wissenschaft umrissen wird. Plötzlich wurde mir klar, daß Jakob eine Voraussetzung, ja eine Bedingung erfüllte, bevor ihm die Erleuchtung kam. Der Schlüssel, so schien mir, war in der Aussage enthalten, daß er einen Stein als Kissen verwendete. Kann dies nicht eine Verhaltensweise für uns symbolisieren, bei der wir durch Gebet an eine schwierige Situation herangehen, uns weigern, sie als solche zu betrachten, und statt dessen durch Umkehrung der Argumente (was sie auch sein mögen) die harte Prüfung zum Segen werden lassen?
Eine der bedeutenden Lehren, die wir der Bibel entnehmen können, ist, daß wir das Zeugnis der fünf physischen Sinne nicht als wirklich annehmen dürfen. Vielmehr müssen wir durch Umkehrung — d. h. dadurch, daß wir das falsche Zeugnis der materiellen Sinne zurückweisen und die geistigen Tatsachen an seine Stelle setzen — die gottgegebene Herrschaft und Freiheit des Menschen und seinen rechtmäßigen Anspruch auf geistigen Fortschritt beweisen.
Was geschah mit Jakob? Nachdem er sich einen der Steine, die dort herumlagen, zum Kissen gemacht hatte, schlief er ein und träumte. Gott verhieß ihm Seinen Schutz und Segen, was ihn ermutigte und ihm bewies, daß er nicht allein war. „Fürwahr, der Herr ist an dieser Stätte, und ich wußte es nicht!“ 1. Mose 28:16. waren seine Worte, als er erwachte.
Gottes stete Gegenwart war genau dort zu spüren, wo scheinbar Angst, Einsamkeit und Ungewißheit herrschten.
Haben nicht die meisten von uns irgendwann einmal etwas erlebt, was fast zu schwer zu tragen war? Vielleicht handelte es sich um eine zerbrochene Beziehung, den Verlust eines lieben Menschen, eine erschreckende physische Behinderung oder um finanzielle Sorgen. Zu solchen Zeiten können wir lernen, aus den Steinen des Leidens Kissen des geistigen Trostes zu machen. Wissenschaft und Gesundheit erklärt: „Willst du die geistige Tatsache erkennen, so kannst du sie dadurch entdecken, daß du die materielle Fabel umkehrst, sei die Fabel nun für oder wider, sei sie in Übereinstimmung mit deinen vorgefaßten Meinungen oder diesen gänzlich entgegengesetzt.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 129.
Kehrt man den Kummer in sein Gegenteil um, so wird daraus Freude. Krankheit weist auf Gesundheit hin, Verlust auf Gewinn usw. Gerade dort, wo eine qualvolle Lüge zu sein scheint, ist die entgegengesetzte geistige Tatsache — klar und deutlich. Doch wir müssen sie als die Wirklichkeit — das wirklich Wahre — beanspruchen, anerkennen, annehmen und dementsprechend leben. Ferner sagt uns das Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft: „Die Wissenschaft kehrt das falsche Zeugnis der physischen Sinne um, und durch diese Umkehrung gelangen die Sterblichen zu den fundamentalen Tatsachen des Seins.“ Ebd., S. 120.
„Umkehrung“ in dem Sinne, wie die Christlichen Wissenschafter das Wort allgemein gebrauchen, bedeutet, daß wir unsere Einstellung zu einer Sache, unseren mentalen Ausblick, umkehren. Wir ändern nicht etwas Wirkliches und können es auch nicht ändern, denn die Wahrheit ist unwandelbar. Was wir umkehren, ist die Art und Weise, wie wir eine Situation betrachten. Anstatt die Unwirklichkeit zu sehen, akzeptieren wir die Wirklichkeit; anstatt an das Negative zu glauben, bejahen wir das Positive; anstatt uns durch den materiellen Augenschein täuschen zu lassen, erkennen wir die geistige Tatsache an; anstatt uns durch das Persönliche beeinflussen zu lassen, ehren wir das unpersönliche Recht.
Man muß verstehen, daß es nicht zwei verschiedene Universums gibt — ein geistiges und ein materielles. Das würde uns zu dem Glauben verleiten, daß wir uns zuerst von einem materiellen Universum befreien müssen, bevor wir das wahre, geistige Universum erfahren können.
Der Heilungsvorgang, bei dem die Wirklichkeit in den Blickpunkt rückt, wird vereinfacht, wenn wir wahrhaftig verstehen, daß das scheinbar materielle Universum mit all seiner Sünde, seinem Leid, seiner Krankheit, seinen Kriegen und seiner Armut ein umgekehrtes Bild von dem ist, was tatsächlich vor sich geht. Und was wirklich vor sich geht, ist die absolute Harmonie eines geistig mentalen und göttlich geordneten Universums, in dem alle Ideen des Gemüts wegen ihrer unzerstörbaren Beziehung zu ihrer göttlichen Quelle in vollkommener Beziehung zueinander wirken und sich bewegen.
Wenn wir auch nur in einem Fall durch Zurückweisung und Umkehrung der Ansprüche der materiellen Sinne die stete Gegenwart von Gesundheit und Harmonie beweisen können, verstehen wir ein bißchen mehr von Gottes allmächtigem, alles durchdringendem Sein. Wir haben einen Schimmer von dem Christus, der Wahrheit, erhalten, von dem wirklichen Selbst, das Christus Jesus uns zeigte. Dies gibt uns den Mut, vorwärtszugehen und mehr zu beweisen.
Jakob reiste weiter in der Stärke seiner Vision; er lernte mehr über Gott, und erprobte das Gelernte, bis er schließlich in sein Heimatland zurückkehrte. Auf jener Heimreise fand die endgültige Umkehrung von Angst und Schwachheit statt. Er begegnete dem Feind und besiegte ihn — er besiegte nicht einen rachsüchtigen Bruder, sondern einen falschen Begriff von sich und seinem Bruder.
Eine Vision, eine Umkehrung, sei sie auch noch so mächtig, berichtigt nicht all die falschen Annahmen von diesem materiellen Daseinsbegriff. Doch sie kann einen Wendepunkt darstellen — sei es eine Abkehr von falschen Gelüsten oder falschem Denken hin zur geistigen Tatsache oder ein Hinwenden zur Wahrheit mit all der geistigen Kraft, die wir besitzen, wobei wir die Argumente von Versagen, Schmerz und Verlust als hilflose, hoffnungslose Lügner abweisen. Wenn wir erkennen, daß ihnen weder Leben noch Wahrheit innewohnt, keine Überzeugungskraft, keine hinterlistige Anziehungskraft, kein göttliches Gesetz, das ihnen Fortdauer oder Status verleiht, können wir von solchen Lügnern nicht eingeschüchtert oder beeinflußt werden.
Denken Sie nur, wie hoffnungslos Jakob seine eigene Situation erschienen sein mag, als er auf sein Leben zurückschaute. Er hatte seinen Vater betrogen, seines Bruders Erstgeburt gestohlen, und er hatte seine Heimat verlassen müssen. Doch Gott liebte ihn immer noch, und die dunkelste Stunde im Leben Jakobs bezeichnete den Anfang seiner Befreiung.
Was sagen uns also die Steine und Kissen? Mir sagen sie folgendes: Gib niemals auf, wie schwierig die Prüfung auch erscheint, wie lange sie schon gedauert hat, wie allein oder unwürdig du dich fühlen magst. Liebe Gott — d. h., liebe das Gute, und vertraue auf die göttliche Liebe die dein Leben umschließt. Laß die trostreichen Engelsbotschaften der Liebe die hartnäckige Materialität mit der sanften Berührung echter Reue und Geistigkeit erweichen. Kehre jede Suggestion von Furcht, Zweifel und Entmutigung mit den spezifischen Tatsachen des Glaubens, des Verständnisses und der Inspiration um, bis die Helligkeit der Freude jeden Aspekt deines Seins mit dem Lohn des Sieges belebt.
