Stellen Sie sich vor, Sie stünden auf einem schmalen Stahlträger, ohne sich an etwas festhalten zu können, und dazu noch fünfzig oder sechzig Stockwerke hoch? Hätten Sie da nicht allen Grund, sich zu fürchten?
Sicherlich mag es Ihnen oder mir so vorkommen! Ich kann mich jedoch daran erinnern, wie ich vor ein paar Jahren Stahlbauschlosser beobachtete, die in Boston einen Neubau errichteten. Als die Träger in den Himmel wuchsen, konnte man nur Bewunderung empfinden für die Leistung, die diese winzigen Gestalten dort oben auf den schmalen Trägern vollbrachten. Selbst an einem stürmischen Wintertag bewegten sie sich ohne Sicherungsleinen, ohne Netz, sie konnten sich nirgendwo festhalten, und zwischen ihnen und dem Erdboden war nichts als Luft. Zudem gingen sie aufrecht und krochen nicht etwa millimeterweise voran.
Wie oft kommen uns Furchtgedanken mit „guten Gründen“. Aus diesem Beispiel mit den Stahlbauschlossern können wir jedoch lernen, daß Furcht tatsächlich nicht einfach mit der Situation zusammenhängt, der wir gegenüberstehen. Furcht ergreift uns, weil wir die Ansicht teilen, daß wir unter den gegebenen Umständen guten Grund hätten, uns zu fürchten.
Wenn wir einmal darüber nachdenken, so stoßen wir auf zahlreiche Beispiele. Eine Bekannte von mir meinte, daß sie infolge eines Erlebnisses vor ein paar Jahren durchaus allen Grund habe, sich davor zu fürchten, vor einer Gruppe von Menschen sprechen oder auch nur stehen zu müssen. Die immer wiederkehrende Furcht war so groß, daß meine Bekannte manchmal ohnmächtig wurde. Doch mit Hilfe der Christlichen WissenschaftChristian Science (kr’istjən s’aiəns) geschah etwas völlig Unerwartetes. Gerade die Umstände, die ihrer Ansicht nach die Ursache für ihre Besorgnis bildeten, wurden für sie zu Gelegenheiten, die sie nicht mehr missen wollte, weil sie dadurch ihre Liebe ausdrücken konnte.
Es ging hier um viel mehr als den Versuch, die eine Geisteshaltung durch eine andere ersetzen zu wollen. Die Furcht meiner Bekannten verschwand, als sie geistig verstehen lernte, daß die göttliche Liebe in allen Lagen gegenwärtig ist. Ein Bibelvers aus dem Buch Jesaja bedeutete ihr viel; er beschreibt die göttliche Verheißung: „Wer festen Herzens ist, dem bewahrst du Frieden; denn er verläßt sich auf dich.“ Jes 26:3.
Im Lehrbuch der Christlichen Wissenschaft, Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, steht etwas Grundlegendes über Furcht. Dieser Stelle zufolge sollte jede christlich-wissenschaftliche Behandlung, d. h. jedes konkrete heilende Gebet, damit beginnen, daß man Christi Jesu Gebot befolgt: „Fürchtet euch nicht.“ Siehe Mk 5:36; Wissenschaft und Gesundheit 410:35–36; 411:31–37.
Viele Menschen haben festgestellt, daß ihnen alles besser gelang als erwartet, wenn sie beständig bestrebt waren, sich an dieses Gebot zu halten. Furcht ist schließlich nicht unwiderstehlich. Das ist sogar in ernsten Notfällen und unter lebensbedrohenden Umständen von all denen bewiesen worden, die bereit waren, sich Gottes tatsächlicher Gegenwart und Seinem alles beherrschenden Gesetz zuzuwenden, anstatt die Lage, in der sie sich allem Anschein nach befanden, einfach hinzunehmen.
Da Furcht ein Grundelement der falschen Mentalität ist, die die Allheit Gottes ignoriert, folgt daraus, daß mit dem Verschwinden der Furcht vieles andere verschwindet. Oft bessert sich die Gesundheit, und „unmögliche Situationen“ erscheinen viel weniger hoffnungslos.
Was aber, wenn wir zwar versuchen, uns nicht zu fürchten, uns aber doch nicht helfen können, vielleicht noch nicht einmal in der Lage sind, klar zu denken? Auch dann steht uns eine ungetrübte Quelle des Denkens offen, und diese Quelle ist Gott. Ganz gleich, wie verwirrt unser Denken auch sein mag, wir können dennoch von Gott klare Anweisungen erhalten.
Wer das Studium der Christlichen Wissenschaft ernsthaft betreibt, lernt allmählich verstehen, daß Gott das eine und einzige Gemüt oder die wahre Intelligenz der gesamten Schöpfung ist. Er sieht dann deutlich, daß geistige Eingebung in Wirklichkeit auf eine wissenschaftliche Tatsache hinweist: Wahre Intelligenz hat ihren Ursprung einzig und allein in Gott. Sie ist nicht auf einzelne sterbliche Gemüter beschränkt, sondern sie existiert unabhängig von Materie oder Gehirn. Wenn wir also damit aufhören, uns an einem furchtsamen menschlichen Gemüt zu orientieren und statt dessen Gottes immergegenwärtige Intelligenz und Liebe anerkennen, stellen wir fest, daß wir auch unter den widrigsten Umständen logisch denken können. Es spielt keine Rolle, wie verängstigt wir einen Augenblick zuvor waren: Wir können klar und zusammenhängend denken, weil uns das Wissen des einen göttlichen Gemüts immer zur Verfügung steht.
Die Furcht mag gelegentlich behaupten, sie sei in uns tiefer verwurzelt als eine körperliche Krankheit oder Verletzung, und aus diesem Grund sei es schwieriger, sie zu überwinden. Sie könnte als psychologisches Problem angesehen werden, als ein Bestandteil unserer eigenen Psyche, unserer Wesensart. Es gibt in Wahrheit jedoch nur eine Seele oder einen göttlichen Geist, der in jedem Menschen individuell ausgedrückt ist. Das bedeutet, daß Furcht niemals wirklich zum Bestandteil unserer wahren Individualität geworden ist, weil wir tatsächlich der Ausdruck der Seele sind, das Bild und Gleichnis Gottes.
Von diesem Standpunkt aus betrachtet, erkennen wir, daß Furcht niemals wirklich in „unser“ Denken eindringt oder „unser“ Denken wird. Sie bleibt eine von außen kommende Einflüsterung — eine Täuschung oder etwas uns Aufgedrängtes. Scheinen wir auch noch so furchtsam zu sein, so ist es doch, christlich-wissenschaftlich gesehen, eine Tatsache, daß wir es nicht sind. Der von Gott erschaffene Mensch fürchtet sich nicht und könnte in der Allgegenwart der Liebe auch gar keinen Grund haben, sich zu fürchten. Wenn wir in dem Bewußtsein dieser wissenschaftlichen Tatsche beharren, erhaschen wir heilende und stärkende Lichtblicke von der geistigen Wirklichkeit, die jenen Worten zugrunde liegt, die in der Bibel so häufig zu finden sind: „Fürchtet euch nicht.“