Der Bildungsbetrieb scheint bisweilen einer Fabrik zu gleichen. Wir durchlaufen einen festgelegten Ausbildungsgang, der uns in ein bestimmtes Schema preßt und uns formt. Wir „werden“ etwas, wenn wir Erfahrungen und Wissen angesammelt haben. Dabei mag es uns schließlich so vorkommen, als seien wir ein „Produkt“ geworden — ein Pauschalangebot, das vermarktet werden kann. Meinen Wir, uns fehle etwas, wenn wir nicht mindestens eine zwölf- bis sechzehnjährige Entwicklungsphase (unseren Bildungsweg) durchlaufen haben? Hat das „Produkt“ (wir) sich bei Ferienjobs schon bewährt?
Bei all der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt reicht offensichtlich eine akzeptable Verpackung nicht einmal aus. Man muß zum Qualitätsprodukt verfeinert werden, dadurch daß man im Laufe seiner Entwicklung immer das „Richtige“ wählt: die richtige Schule, die richtigen Tätigkeiten, die richtige Kleidung und Nahrung, die richtigen Freunde. Diese Kriterien können auf jene Leute vernichtend wirken, die meinen, sie hätten nie die Chance, diesen Normen zu entsprechen; können auch leicht beunruhigend sein für den, der sich fragt, ob sich der Aufwand überhaupt lohne; und sind häufig frustrierend und unbefriedigend sogar für die, die diesen Weg konsequent verfolgen.
Gelegentlich wird uns schlagartig klar, daß unserem Leben eine tiefere Dimension zu eigen ist — wenn wir etwa gegen Mitternacht aus der Bibliothek kommen und die absolute Unermeßlichkeit eines sternklaren Himmels über uns sehen, wenn wir Worte finden, die einen ungerecht behandelten Freund trösten, wenn wir unerwarteterweise mit einem Professor, den wir für einen Tyrannen hielten, Erkenntnisse besprechen konnten. Etwas Frisches bricht über die normale Routine herein und markiert den Anfang einer völlig neuen Sicht. Dieser Durchbruch kann ein Anzeichen dafür sein, daß Gott im menschlichen Bewußtsein wirksam ist. Und wenn wir dieses Wirken mehr beachten, sehen wir unsere Identität unter Umständen mit ganz anderen Augen an. Die Individualität, die so unumstößlich aus einer Fülle materieller Elemente zu bestehen schien, weicht einer Identität, die von geistigen Eigenschaften bestimmt wird.
In meinem dritten Studienjahr schrieb ich mich nebenbei für einen Keramikkurs ein, den meine Studienberaterin leitete. Für die zehn geforderten Keramikarbeiten mußte ich jeweils eine andere Tonsorte und eine andere Brennmethode verwenden, selber die Glasuren mischen und einiges mehr tun, was mir zu jener Zeit noch nicht geläufig war. Verschiedene Male legte ich ihr in ihrem Sprechzimmer Skizzen vor, doch nur um zu erfahren, daß sie mehr von mir erwartete, daß sie meinte, ich sei eine vielversprechende Studentin. Aber es erschien mir unmöglich, etwas Neues oder Innovatives zu bringen.
Eines Nachmittags ging ich am Strand spazieren, um darüber zu beten, ob ich in diesem Kurs bleiben sollte (auch über die unausgesprochene Frage, der ich auszuweichen versuchte: War ich denn überhaupt eine so vielversprechende Studentin?). Als ich so auf den Michigansee hinausschaute und den Strand entlangblickte, über den der Wind hinwegfegte, kam mir plötzlich der Gedanke: „Gott ist Gemüt. Und du bist ja Gottes Kind, der Ausdruck des Gemüts, und drückst die ganze Bandbreite der Intelligenz aus.“ Ich kehrte um und ging zur Universität zurück. Als ich in meinem Zimmer angekommen war, hatte ich genügend Entwürfe vor Augen, mit denen ich Seite um Seite für die restlichen Arbeiten füllen konnte. Sie wurden alle gutgeheißen und rechtzeitig fertiggestellt.
Die Vorstellung, daß der Mensch einen Entwicklungsprozeß bis zum fertigen Produkt durchlaufe, hat wenig mit dem Menschen gemein, der der Ausdruck des Gemüts ist. Wenn wir nach einer brauchbaren Definition für den von Gott erschaffenen Menschen suchen, sollten wir vielleicht folgende Aussage heranziehen aus dem Lehrbuch der Christlichen WissenschaftChristian Science (kr’istjən s’aiəns), Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift von Mary Baker Eddy, der Entdeckerin und Gründerin der Christlichen Wissenschaft: „Der Mensch ist Idee, das Bild der Liebe; er ist kein körperlicher Organismus.“ Wissenschaft und Gesundheit, S. 475. Dieses geistige Menschenbild beschreibt genau unsere wahre Individualität und ermöglicht es uns, uns als geistige Idee zu sehen anstatt als physische Erscheinung.
Alles, was uns als eine Einheit aus materiellem Intellekt und körperlichem Organismus darstellt, läßt nur wenig Raum für die Anerkennung des geistigen Menschen. Es mag uns vielleicht nicht einmal die gottgegebene Freiheit lassen, unsere Identität als Gottes Widerspiegelung zu entdecken. Solch begrenztes, materielles Denken kann kein geistiges Wachstum und keine geistige Entwicklung wahrnehmen. Es hat auch keine Ahnung von dem Erstaunen, das die Entdeckung verborgener Talente, Interessen, Fähigkeiten und Gaben jedesmal von neuem mit sich bringt. Das materielle Denken argumentiert sehr gerissen und auch frei heraus, es sei lächerlich, sich als geistig zu sehen oder gar zu glauben, daß wir unseren Ursprung in Gott hätten oder zu Ihm in Beziehung stünden. Es geht sogar so weit, Gottes Existenz in Frage zu stellen! Diese Denkart bezeichnet Paulus in der Bibel als fleischliche Gesinnung. Er sagt: „Fleischlich gesinnt sein ist Feindschaft gegen Gott, weil das Fleisch dem Gesetz Gottes nicht untertan ist; denn es vermag's auch nicht.“ Röm 8:7. Und wenn wir Entscheidungen treffen, die sich auf die irreführende Annahme gründen, daß es eine Gesinnung, ein Gemüt, von Gott getrennt, gebe, werden wir in die Irre geführt.
Somit muß sich etwas ändern, damit wir uns von den Begrenzungen materieller Meinungen hinsichtlich der Frage, wer und was wir sind, lossagen können. Wir müssen uns Gott — unserem einzigen Gemüt — zuwenden. Wenn wir verstehen lernen, daß Gott Gemüt ist, die Quelle aller Intelligenz, entdecken wir einige erstaunliche Dinge über uns als Bild und Gleichnis des Gemüts. Wir erkennen, daß wir die Eigenschaften des Gemüts ausdrücken (Eigenschaften wie Auffassungsgabe, Sorgfalt, Präzision, Ordnung), und wir finden mehr Zuversicht, bessere Führung und wirkliche Zufriedenheit. Wenn wir uns darauf verlassen wollen, daß Gemüt uns führt, so ist das an sich schon eine Form des Gebets. Dieses Verlangen trägt dazu bei, daß wir allmählich die Vorstellung aufgeben, wir seien ein „Produkt“, dessen einziger Zweck darin bestehe, in einer akzeptablen Verpackung präsentiert zu werden.
Beim Fortschritt geht es im eigentlichen Sinn nicht um die Anhäufung menschlichen Wissens oder materieller Erfahrungen, sondern darum, daß wir herausfinden, was Gott mit uns vorhat — daß wir entdecken, was unsere eigentliche Aufgabe im Leben ist. Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist das Leben eher ein geistiges Abenteuer als ein Prozeß, in dessen Verlauf wir uns Fähigkeiten aneignen oder Erfahrungen sammeln. Wir sehen die geistige Natur des Wachstums und der Entwicklung in einem neuen Licht, sobald uns unsere wahre Natur und unsere wahre Lebensaufgabe klarer werden.
Die Auswahl der Vorlesungen das Nachdenken über die Berufswege, die ordentliche und zielgerechte Ausführung unserer Seminararbeiten und anderen Tätigkeiten, die Vorbereitung auf größere Verpflichtungen — all das kann produktiver sein, sofern es sich auf geistiges Wachstum gründet. Ein solcher Beweis unserer wahren Natur und Lebensaufgabe ist auch keineswegs ein selbstisches oder uns selbst dienendes Bestreben. Im Gegenteil. Je mehr wir über unsere geistige Selbstheit entdecken, in desto größerem Maße sind wir bereit und fähig, anderen zu der gleichen Entdeckung zu verhelfen. Die Freunde, die wir trösten, die Erkenntnisse, die wir ihnen mitteilen, die unerwartete Freude, die wir in Alltäglichkeiten finden — all das zeigt an, daß wir die wahre Natur des Menschen immer besser verstehen.
Andere werden dieses geistige Leuchten sehen und wissen wollen, was es damit auf sich hat und woher es kommt. Wenn wir uns auf solche Weise mitteilen, werden wir zu modernen Jüngern Christi Jesu, denn dann führen wir seine Anweisung aus: „Laßt euer Licht leuchten vor den Leuten, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater im Himmel preisen.“ Mt 5:16.
Wir können deutlicher unterscheiden zwischen den Forderungen, die Gott an uns stellt, und den Suggestionen, die als Meinung, Wunschdenken oder Wille des fleischlichen Gemüts zu uns kommen, wenn wir unsere Lebensaufgabe klarer vor uns sehen. Legen wir fest, welche „Verpackung“ der Welt dargeboten werden soll, so machen wir ein Zugeständnis an das fleischliche Gemüt, und solch ein Zugeständnis verlangsamt unseren geistigen Fortschritt. Aber durch ein größeres Verständnis der geistigen Anschauung vom Menschen — und ein Leben in Überstimmung mit der geistigen Entwicklung — wählen wir ein Leben zu Ehren Gottes und als Sein Ausdruck.
