Wenn Schuld und Scham auch nicht sinnverwandt sind, so müssen sie wenigstens sehr enge Freunde sein. Man kann natürlich eines Verbrechens schuldig sein und sich nicht dafür schämen. Hierfür gibt es einen Ausdruck: er lautet moralischer Blödsinn. Die Bibel enthält eine Fülle von Beispielen zu diesem sittlich verkommenen Zustand, wie etwa der gnadenlose Versuch des Pharao, die Israeliten auf ihrer Flucht aus Ägypten zu vernichten, und der Erlaß des Herodes, alle männlichen Säuglinge zu töten.
Es kann aber auch sein, daß man sich schuldig und beschämt fühlt und doch unschuldig ist. Dieser Gedankenzustand verleiht dem Bösen Autorität und ist ebenfalls verderbt, obwohl nicht im üblichen Sinne und gewiß nicht böswillig. Die Geschichte liefert viele traurige und tragische Beispiele von Menschen, die gezwungen wurden, sich unwürdig, unzulänglich und abseits des Erstrebenswerten zu fühlen, selbst wenn sie von sich aus nichts getan hatten, was diese Unbarmherzigkeit verdient hätte.
Das Böse, sei es in Form verdienter oder unverdienter Schuld oder Scham, möchte uns blind machen für unser wahres Wesen. Der verstockte Sünder und der leidende Heilige müssen beide zu ihrem wahren, geistigen Selbst erwachen. Und wenn wir auch glauben, daß wir wahrscheinlich irgendwo in der Mitte zwischen diesen beiden Extremen liegen, können wir doch nach und nach Freiheit finden sowohl von der Sündhaftigkeit, die das menschliche Herz verhärtet, wie von dem Leiden, das das Herz zerbricht.
Es ist interessant, sich einmal anzuschauen, wie Christus Jesus mit seinen Mitmenschen umging. Wenn man die vier Evangelien durchgeht, wird man entdecken, daß Jesus niemals jemanden beschämte. Und er ist gewiß vielen Menschen begegnet, die eine schwere Bürde von Schamgefühlen mit sich trugen.
Überlegen Sie einmal, wie er die Menschen behandelte, die unter Lepra litten und von der Gesellschaft abgesondert waren. Denken Sie daran, was er für die Frau tat, die im Ehebruch ergriffen worden war. Petrus hat ihn sogar dreimal verleugnet, und doch behandelte Jesus ihn, als sie wieder zusammen waren, mit Offenheit, Ehrlichkeit, und er übertrug Petrus schließlich eine außergewöhnliche Verantwortung. Jesus heilte Angehörige von Minderheiten, mit denen seine eigenen Landsleute nichts zu tun haben wollten. Es ist bemerkenswert, wie er mit einzelnen Personen umging, die aus Bevölkerungsgruppen stammten, die von vielen als seine Erzfeinde angesehen wurden, Menschen wie der Pharisäer Nicodemus, der römische Hauptmann, dessen Knecht er geheilt, und der vornehme Simon, der ihn zum Essen eingeladen hatte.
Jesus biederte sich bestimmt nicht bei all diesen Leuten an. Tatsächlich wurde er von vielen, die ihm zuhörten, seiner Botschaft wegen gehaßt. Und er riet denen, die ihm folgten, sich nicht durch die Ablehnung und den Haß des sterblichen Gemüts gegen die Wahrheit überwältigen zu lassen. Aber es gab jene, die Gottes Gnade spürten, weil Jesus voller Güte war und Achtung zeigte für ihre Fähigkeit, recht zu handeln und gut zu sein. Die Heilungen, die folgten, bestätigten die wahre Fähigkeit jedes Menschen, sich dem guten Gesetz Gottes anzupassen.
Geistiges Heilen ist für unser Leben wesentlich. So wichtig körperliches Wohlbefinden auch ist, geistiges Heilen schließt doch viel mehr in sich als selbst dieses kostbare Gut. Geistiges Heilen ist die Bestätigung, daß keiner von uns das sterbliche, materielle, mangelhafte Geschöpf ist, das er zu sein scheint. Geistige Heilung und Umwandlung beweisen die Allheit der göttlichen Liebe und die Macht, die hinter der Tatsache steht, daß wir geistig gut sind und Gutes vollbringen können. Wenn wir erst einmal einen Schimmer von dieser grundlegenden Tatsache erhaschen, können wir mehr für uns und andere tun, viel mehr als alle Verdammung und Bestrafung zu tun vermag, die die Welt dem Bösen und den Übeltätern auferlegen kann.
Die göttliche Liebe, die Jesus widerspiegelte, machte ihn fähig und würdig, die Sünde zu tadeln, die zerbrochenen Herzen zu trösten und all die Teufel auszutreiben, die die Gedanken und Gefühle der Menschheit zu verderben scheinen. Es ist wohl wahr, daß wir Schuld oder Scham nicht einfach dadurch beseitigen können, daß wir jedes mögliche Verhalten zu rechtfertigen suchen. Aber ebenso wahr ist es, daß wir den Menschen die heilende Gewißheit von der göttlichen Liebe nicht durch die dauernde Wiederholung des Vorwurfs bringen können, daß das Wesen des Menschen unwiderruflich sündig sei — wie uns das viele theologische und psychologische Theorien und persönliche Meinungen weismachen wollen.
Jesus kam einmal einem Mann zu Hilfe, der nach dem Lukasevangelium von einem „unreinen Geist“ besessen war. Was für ein Übel das auch immer gewesen sein mag, es wurde personifiziert durch die Bitte: „Laß uns allein, was willst du von uns, Jesus von Nazareth?“ Lk 4:33, 34 [nach der engl. King-James-Bibel]. In gewisser Weise ist dieses „Laß uns allein” immer der Anspruch des Bösen. Und dem Bösen wird auf keine unheilvollere Art und Weise Macht eingeräumt als durch den Glauben, daß es jemanden beherrsche. Genauso schädlich ist eine voreingenommene Meinung über eine einzelne Rasse oder die Kluft zwischen den Menschen, wenn wir sie akzeptieren. Jesus war nicht bereit, sich solche Ansichten zu eigen zu machen. Er wußte, daß die göttliche Liebe unteilbar ist; was sie für einen bedeutet, muß sie für alle bedeuten.
Das zuverlässige Gegenmittel für Böses in jeder Form ist unser Verständnis von Gottes göttlichem Gesetz des Guten. Das Gegenmittel für Haß ist Liebe; für Krankheit ist es die Wahrheit, daß der Mensch nicht der Träger des Bösen, sondern vielmehr der Ausdruck von Gottes Sein ist. Mrs. Eddy sprach von einem „undurchdringlichen Panzer“ gegen das Böse, als sie uns riet: „... haltet euer Gemüt so von Wahrheit und Liebe erfüllt, daß Sünde, Krankheit und Tod nicht eindringen können. Es ist klar, daß einem Gemüt, das schon voll ist, nichts hinzugefügt werden kann. Ein von Güte erfülltes Gemüt hat keine Tür, durch die das Böse eindringen, und keinen Raum, den es ausfüllen kann. Gute Gedanken sind ein undurchdringlicher Panzer; damit angetan, seid ihr gegen die Angriffe des Irrtums jeder Art vollständig geschützt.“ Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes, S. 210.
Solch ein Gemütszustand ist christlich. Er kann vergeben, weise die Versuchungen des Bösen vermeiden und ehrlich und erbarmungsvoll mit anderen umgehen. Und auf dem Weg zu einem solchen Zustand der Gnade entwickelt sich in uns die Widerstandskraft, die Selbstvergebung und Würde, die uns und andere stützt in dem Bemühen, gut zu sein. Es gibt keinen vernünftigen Menschen, der sich nicht wünschte, gut zu sein, wenn er nur wüßte, wie man’s macht. Wir können es wissen, und zwar jetzt, durch die Wissenschaft des Christentums, die die Welt, in der wir leben, verändert und zu einem gütigeren Ort macht.
