Natürlich ist es das Leben — nicht der Tod —, das alle Werte beinhaltet, all das, was wir am meisten lieben.
Doch haben nicht die meisten von uns schon einmal das Gefühl gehabt, daß der Tod eine totale und Elend bringende Kraft zeigt, indem er ein Leben beschließt — das Leben eines Menschen, den wir mehr liebten, als wir je in Worten ausdrücken könnten?
Das wirft einige der schwierigsten Fragen auf. Was wir am wenigsten wollen, sind glatte, vertraute Antworten. Aber wenn wir uns nach Trost und Heilung von dem Schmerz sehnen, mögen wir in solchen Zeiten ganz unerwartete Einsichten gewinnen.
Was mir in solchen Zeiten geholfen hat, ist die wachsende Erkenntnis dessen, was der Tod nicht vermag und was ihm auch nicht zugeschrieben werden sollte, weil er es nicht verdient.
Der Tod beansprucht zum Beispiel, eine endgültige und vollständige Aussage zu sein. Aber wenn der Tod vom Leben zu sprechen scheint, sagt er im Grunde nichts. Er kann keinen Schlußstrich ziehen und kein korrektes Resümee eines Lebens geben. Tatsache ist, daß nichts über das Leben gesagt wird — oder über das Leben des geliebten Menschen. Wir schulden dem Tod keinen Respekt. Er verdient wirklich, daß man ihn verachtet — sich gegen ihn auflehnt —, nicht sich in das fügt, was er angeblich sagt.
Wenn in der Bibel der Tod als Feind bezeichnet wird, dann ist das klar genug. Er ist ein Feind, und er hat keinen legitimen Anteil am Leben. Es liegt in seiner Natur, ein Widerspruch und eine absolute Negation zu sein, ein Gegensatz, nicht etwas in oder aus sich selbst. Aber das Wesentlichste, was die Bibel zu diesem Thema sagt, ist, daß es das Schicksal dieses Widerspruchs oder dieser Illusion ist, schließlich zerstört zu werden.
In einem Artikel zu diesem Thema, der schon vielen geholfen hat, deren Schmerz noch frisch war, schreibt Mary Baker Eddy, die die Christliche Wissenschaft
Christian Science (kr’istjən s’aiəns) entdeckte und gründete: „Gott allein gehören die unbestreitbaren Wirklichkeiten des Seins an. Der Tod ist ein Widerspruch zu Leben oder Gott; daher steht er nicht in Einklang mit Seinem Gesetz, sondern ist diesem entgegengesetzt.. . Eine materielle Vorstellung vom Leben beraubt Gott, indem sie erklärt, daß Gott nicht allein Leben sei, sondern daß etwas anderes auch Leben besitze — und so behauptet sie die Existenz und Herrschaft mehrerer Götter, nicht nur des einen Gottes. Diese götzendienerische und falsche Vorstellung vom Leben ist alles, was stirbt oder zu sterben scheint.
Das entgegengesetzte Verständnis von Gott bringt Leben und Unsterblichkeit ans Licht. Der Tod besitzt keine Eigenschaft des Lebens; kein göttlicher Machtspruch fordert von uns, an etwas zu glauben, was Gott unähnlich ist, oder zu leugnen, daß Er ewiges Leben ist.”Die Einheit des Guten, S. 38.
Das augenscheinliche Ende des Lebens ist ein Widerspruch zu dem, was wir im Grunde unseres Herzens als wahr empfinden; es kann niemals unsere Zustimmung finden; im Gegenteil, wir bekennen uns selbst zu den geringsten Zeichen von Leben und Liebe. Man könnte sagen, daß die Melodie des Lebens tief in unser Sein eingemeißelt ist. Sie veranlaßt uns, freudig zu singen, wenn scheinbar kein Grund zur Freude vorhanden ist. Sie erklärt uns immer wieder, daß es in unserem Leben viel mehr gibt als Anfang und Ende oder völlige Abhängigkeit von einem materiellen Lebensgefühl.
Vor vielen Jahren besuchte ich ein paar Tage nach dem Tode meines Vaters ein Konzert in der Schule unserer Kinder. Ich erinnere mich, daß ich gegen Ende der Aufführung nach draußen ging und mich auf einen Hang neben der Schule setzte. Ich dachte an meinen Vater und hörte den Rest der Kinder in der Nacht verklingen. Die Darbietung eines Chores der vierten Klasse klang trotz falscher Töne sonderbar schön unter dem Sternenhimmel an jenem Juniabend. Sie schien in gewisser Hinsicht wie die Melodie des Lebens. Ich erinnere mich, daß ich das Gefühl hatte, daß sie tausendmal mächtiger und sinnvoller war, als der Tod es jemals sein konnte.
Die Liebe von Nachbarn, Freunden und Angehörigen hilft immer sehr in solchen Zeiten. Sie half auch mir. Aber sie war mehr als ein kleiner Trost; mir wurde wie nie zuvor klar, daß sie die wesentliche und primäre Bedeutung unser aller Leben ist.
So treten wir hervor aus dem „Schatten” und wählen die Substantialität von Liebe und Leben. Aber müssen wir nicht zugeben, daß der Tod trotz all unserer Bemühungen gewonnen hat? Hat er nicht von uns genommen, was uns lieb und teuer war — einen Menschen, in dem vielleicht unsere größten Hoffnungen und Ideale vereint waren?
Nein, er hat nicht gewonnen und wird niemals gewinnen. Die geliebte Person lebt weiter. Christus Jesus wußte, daß Leben ewig ist, wie aus seinen Lehren zu ersehen ist. Und diese Tatsache kann uns zu einer festen geistigen Gewißheit werden, wenn wir willens sind, auf das zu lauschen, was Geist, Gott, uns sagt. Wenn wir uns bemühen, den Zorn, die gegenseitigen Beschuldigungen, die Verzweiflung, das Selbstmitleid oder die quälende Leere zu überwinden, die in solchen Zeiten so berechtigt und unvermeidlich zu sein scheinen, dann werden wir hören, was Christus, Wahrheit, uns sagt.
Kannten wir den geliebten Menschen während seines Hierseins nicht am besten durch unsere Liebe und geistige Intuition? Können wir dann nicht auf die gleiche Weise wissen, daß er weiterlebt? Es gibt keine spiritistische Kommunikation zwischen irdischen Lebewesen und Personen, die weitergegangen sind; aber wir kommen selbst zu der Überzeugung, daß ihr Leben unsterblich ist. Und im Falle derjenigen, die uns sehr nahe standen, kommt vielleicht ein neuer Hinweis auf das Gute in unser Denken.
Die Lektionen, die wir fortwährend zu lernen haben, sind nicht immer leicht. Von Minute zu Minute gewinnen wir ein größeres Verständnis davon, daß Gott das einzig wirkliche Leben ist. Und das bringt die Erkenntnis mit sich, daß unser ganzer Lebenszweck darin besteht, Liebe zu geben, anstatt sie nur von anderen zu empfangen. Eine Welt wartet auf unsere Liebe. Jesus verband solche Liebe tatsächlich mit ewigem Leben. Wenn wir in dieser Richtung voranschreiten, spüren wir etwas von der göttlichen Liebe. Wir fühlen uns geliebt; wir fühlen die Gewißheit, daß in einem Universum, das mit solcher Liebe regiert wird und damit erfüllt ist, Liebe nicht verlorengehen oder auch nur ein individualisierter Ausdruck Gottes, des abwesend sein kann.
Bedeutet das, daß wir versuchen sollten, uns mechanisch von dem Gedanken an den Menschen, den wir liebten, abzuwenden? Nein. Es ist normal, an jemanden zu denken, der uns so viel bedeutete. Aber unsere Tränen werden getrocknet, und wir werden bei dem Gedanken an jemanden, der weitergegangen ist, immer weniger um einen Verlust trauern und immer mehr Dankbarkeit verspüren. Tatsächlich werden wir all jene, die schon weitergegangen sind, inniger lieben; unsere Dankbarkeit für sie wird wachsen, sowie unsere Überzeugung, daß ihr Leben nie endet.
Schon ein geringes Verständnis davon, was der Tod nicht vermag, läßt uns mehr von der großen Macht des Lebens und seines Sieges erkennen. Ein Bibelvers tröstet uns mit folgenden Worten: „Wenn aber dies Verwesliche anziehen wird die Unverweslichkeit und dies Sterbliche anziehen wird die Unsterblichkeit, dann wird erfüllt werden das Wort, das geschrieben steht:, Der Tod ist verschlungen vom Sieg.’ ” 1. Kor 15:54. Wir können schon jetzt beginnen zu verstehen, warum das Leben, das Gott ist, die große, durchdringende Wirklichkeit ist, und deshalb können wir schon jetzt Freude darüber verspüren, daß das Leben bereits den Sieg errungen hat.
