Viele Länder — Von den Philippinen über Chile und Argentinien bis hin nach Ostdeutschland, Polen, Rumänien und zur Tschechoslowakei — haben eine lange Kälteperiode der Diktatur hinter sich. In mancher Hinsicht scheint es Frühling für den menschlichen Geist zu werden.
Mit geradezu hörbarem Seufzer der Erleichterung schrieb kürzlich ein Journalist: „ ... während [das Jahrhundert] in sein letztes Jahrzehnt eintritt, wird der Wert des von Bevormundung freien menschlichen Geistes zunehmend akzeptiert.“ Der Artikel trug die Überschrift: „Die Welt ist in Bewegund.“ The New York Times, 3. Februar 1990.
Wir haben sehr viel Grund zur Dankbarkeit. Und doch müssen wir, heute vielleicht mehr denn je, auf unsere menschliche Freiheit achten und mutiger und verständnisvoller denn je für sie eintreten.
Wieso das, wenn wirklich „der Wert des... menschlichen Geistes zunehmend akzeptiert“ wird? Weil es neben Anzeichen des Fortschritts und Gründen zur Hoffnung ziemlich unangenehme Hinweise auf die unnachgiebigen Bemühungen des Materialismus gibt, den menschlichen Geist zu unterjochen.
Gegenwärtig werden täglich unsichtbare, aber doch sehr greifbare Begrenzungen installiert, die sich wie eiserne Gitterstäbe auswirken.
Bis in die ersten Jahre dieses Jahrhunderts wurde der menschliche Geist im allgemeinen fraglos akzeptiert. Doch der traditionelle religiöse Glaube verlor mehr und mehr an Autorität. Evolutionstheorie und Anthropologie gaben in zunehmendem Maße entmutigende Definitionen vom Menschen. Religiöse Anschauungen über die Beziehung des Menschen zu einem göttlichen Schöpfer wurden untergraben. Gehirn und Körper wurden von der medizinischen Technologie mit kühlem, distanziertem Realismus kartographiert. Es wurde verkündet: „So funktionierst du, und das bist du. Solltest du dir etwas anderes vorgestellt haben, so ist das eine Mythe ohne praktische Bedeutung.“
In den sechziger Jahren drängten sich religiöse Zweifel und Hoffnungslosigkeit in den Vordergrund. Eine Zeitlang diskutierten die Theologen ganz offen den „Tod Gottes“. Wenn sich auch die Diskussion wieder legte, die Weltanschauung, die sie hervorgerufen hatte, blieb bestehen. Der Einfluß religiöser Wertvorstellungen auf die Lebensweise und die Alltagsmoral der Menschen — darauf, wie sie ihren Sonntag verbrachten, wie sie sich um andere Menschen kümmerten — nahm ab.
Wer noch einen Anhaltspunkt für das Ausmaß der Veränderungen brauchte, konnte ihn in den letzten zehn Jahren durch eine beachtliche Reihe von Gerichtsverfahren in den Vereinigten Staaten erhalten. Hier trat jetzt der Staat auf und hielt es für eine kriminelle, mit Gefängnis zu bestrafende Handlung, wenn man im Krankheitsfall eine christliche Heilung zu erlangen suchte und sich auf Gott und das Gebet verlassen hatte statt auf die Medizin. Jetzt kam der Staat und verlangte buchstäblich eine Art Umerziehung durch Pflichtlektüre und „Gemeinschaftsdienst“. (Und doch verstand man vor nicht allzu langer Zeit Kirche so, daß man sein Leben dem Dienst an Gott und Mensch weiht.)
Es ist ganz gewiß an der Zeit, Fragen über die Tragweite und die Richtung solcher Verfolgungen zu stellen — Fragen über die Auswirkungen nicht nur auf Christliche Wissenschafter, sondern auf die Freiheit des menschlichen Geistes überhaupt. Wenn der Staat darangeht, den göttlichen Geist, Gott, auszuklammern und Ihm jegliche praktische Zuverlässigkeit abzusprechen, dann steht auch das auf dem Spiel, was als menschlicher Geist bezeichnet wird — die Individualität mit ihren Freiheiten.
Natürlich müssen auch die Christlichen Wissenschafter Fragen stellen. Sie müssen sich selber fragen, wie sie es mit der Christlichkeit halten, die von jedem einzelnen unter ihnen wie auch von der ganzen Religionsgemeinschaft verlangt wird, und wie ernsthaft und rein ihre eigene Hingabe ist. Vor allem gilt es, eine neue und umfassendere geistige Vision zu gewinnen.
Der Meinungsstreit besteht ganz gewiß nicht zwischen Christlichen Wissenschaftern und Ärzten, wie der Herold in dieser Ausgabe zu verdeutlichen sucht. Christliche Wissenschafter sind nicht „gegen“ Ärzte. Der Glaube der Christlichen Wissenschafter ist seinem Wesen nach niemals blind, engstirnig oder sektiererisch gewesen, und die Christlichen Wissenschafter fühlen sich mit allen solidarisch, die liebevoll ihr möglichstes tun, um menschliches Leiden zu vermindern. Der Meinungsstreit richtet sich auch nicht gegen Gerichte und geltendes Recht. Wenn es überhaupt eine Auseinandersetzung gibt, so mit den Einflüssen, die, sofern es ihnen gelänge, letzten Endes den lebenswichtigen geistigen Glauben und das geistige Sehnen der ganzen Menschheit auslöschen würden.
Mary Baker Eddy, die Frau, die die Christliche Wissenschaft entdeckte und gründete, drückt es in Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift so aus: „Voraussetzen, daß Verfolgung um der Gerechtigkeit willen der Vergangenheit angehört und daß das Christentum heute mit der Welt in Frieden lebt, weil es von Sekten und Gemeinschaften in Ehren gehalten wird, heißt das eigentliche Wesen der Religion falsch auffassen.“
Die Menschheit beginnt langsam die wahre Dimension und Bedeutung der Religion zu begreifen. Wir sind dabei zu lernen, daß Religion nicht verbannt werden kann. Umweltschutz, geistige Gesundheit, Brüderlichkeit und Gleichheit, Frieden und Gerechtigkeit — sie alle haben ihren Ursprung in der Gesundheit und Freiheit des menschlichen Geistes, der davon lebt, daß der Mensch als Ausdruck der Seele, des göttlichen Geistes, gesehen wird.
Christus Jesus verwendete den Begriff „Brot des Lebens“. Wir dürfen unter wahrer Religion nicht etwas verstehen, was man nehmen oder weglassen kann, wie etwa eine Prise Salz, die einem Gericht Würze verleiht. Religion ist tatsächlich das ganze Mahl für die Menschheit. Sie ist kein veralteter Aberglaube, besteht nicht in veralteten Worten oder Theorien, noch kann sie irgendwie zum Gegenstand weltlichen Stolzes, weltlicher Anschauungen und Politik gemacht werden. In ihrem reinen Wesen ist sie es, die den Geist der Menschheit nährt und uns zeigt, daß die wahre geistige Natur des Menschen wie auch sein Schicksal das Bild und Gleichnis Gottes sind. Wie schon Paulus fragte: „Wißt ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ (1. Korinther)
Wenn die Menschheit für den göttlichen Geist empfänglich ist, gibt es nichts, was sie nicht vollbringen könnte. Trotz schlimmer Unterdrückung wird die Welt unwiderstehlich zum geistigen Licht hingezogen, nicht von ihm weg. Neue Ehrlichkeit, neuer Mut und neue Liebe zur Wahrheit treten in diesem Licht in Erscheinung. Das Dunkel der Unwahrheit und Ungerechtigkeit hat keinen Bestand. Der Verfasser jener Schlagzeile hat recht: „Die Welt ist in Bewegund.“
Deine Hand hat mich gemacht und bereitet;
unterweise mich, daß ich deine Gebote lerne.
Laß mir deine Barmherzigkeit widerfahren,
daß ich lebe; denn ich habe Freude an deinem Gesetz.
Psalm 119:73, 77