November 1989. Die Szenen mit den freudigen Gesichtern auf der Berliner Mauer bewegten viele Zuschauer. Das waren für sie nicht einfach schnell wieder vergessene Bilder aus den Abendnachrichten, sondern zeitlose Dokumente geschichtlicher Ereignisse, deren Zeugen sie geworden waren.
Hinter den Akteuren der deutschen Revolution wurden für viele die Kräfte des Nichtgreifbaren sichtbar — das ununterdrückbare Verlangen, frei zu denken, zu sprechen und zu leben, die Bereitschaft, nicht mehr in der Vergangenheit zu verweilen, sondern vorwärts zu schauen und für den Fortschritt zu arbeiten.
Ein denkwürdiges Kennzeichen dieser friedlichen Revolution war die einflußreiche Rolle, die die ostdeutschen Kirchen dabei spielten. Sie „hetzten" nicht zur Revolution, sie empfahlen keine gesellschaftlichen Maßnahmen, aber sie traten mutig für das ein, was im tiefsten Sinn revolutionär ist — das Evangelium des Christentums, die Frohe Botschaft der Freiheit des Menschen, der das Geschöpf Gottes ist. So mancher erkannte, daß die Bibel ein revolutionäres Buch ist.
Einige ostdeutsche Pastoren sahen in der biblischen Botschaft die Verheißung einer Wende ohne Gewalt — eines praktischen Weges zur Freiheit und zu mehr Achtung vor der geistigen Identität und dem Wert jedes einzelnen Menschen. Sie erkannten, daß die Wurzeln dieser Freiheit nicht in menschlichen politischen Systemen liegen, sondern darin, daß die Menschen ihrem Wesen nach die Möglichkeit haben, in engerer Verbindung mit Gott zu leben. Einer der ostdeutschen Pastoren, aus Dessau, faßt seine Predigten während des Herbstes 1989 so zusammen: „Wenn man die Bibel liest, dann könnte man sagen, daß die Geschichte Israels die Geschichte des ... Weg[es] aus der Sklaverei in die Freiheit ist. Du bist ein Individuum. Niemand ist so wie du. Gott liebt dich. ,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.' "
Für Herold-Leser, die überzeugt sind von der praktischen Macht geistiger Ideale in der Welt, sind diese einzigartigen Ereignisse und die Art und Weise, wie Gebet und eine geistige Auffassung vom Menschen den Lauf der Geschichte beeinflußten, von besonderem Interesse. Mary Baker Eddy, die Gründerin des Herolds, weist auf die gewaltige Wirkung hin, die die göttliche Liebe auf menschliche Angelegenheiten hat, wenn sie über die im 19. Jahrhundert lebenden deutschen Philanthropen Maurice und Clara de Hirsch schreibt: „Die göttliche Liebe wandelt um und erneuert, indem sie der menschlichen Schwachheit Stärke verleiht, als Mahnung und Belehrung dient und alles regiert, was wirklich ist. .. Ob im Palast oder in der Hütte, die gelebte Liebe ist eine Veranschaulichung Gottes und beherrscht die Regierungen, die Industrie, die Menschenrechte, die Freiheit, das Leben. .. Menschenliebe ist liebreich, veredelnd, umwälzend ...” (Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes.)
Wie viele andere ostdeutsche Geistliche erlebte auch Pastor Radeloff die deutsche Revolution aus nächster Nähe. Vor kurzem sprachen wir mit ihm in der Johanniskirche in Dessau, wo er predigt und wo er für viele evangelische Gemeinden der Umgebung verantwortlich ist.
Pastor Radeloff, wie bereiteten Sie sich im Herbst 1989 auf Ihre Predigten vor? Wenn man die Bibel liest, dann könnte man sagen, daß die Geschichte Israels die Geschichte des Volkes auf dem Weg aus der Sklaverei in die Freiheit ist. Und das gleiche gilt auch für das Neue Testament. Jesus kam, um die Menschen frei zu machen. Und das Wort frei oder Freiheit findet man sehr oft in der Bibel.
So benutzten wir Texte über den Weg aus der Sklaverei in Ägypten, aus der Wüste — vierzig Jahre Wüste (vierzig Jahre Deutsche Demokratische Republik) — in die Freiheit. Viele unserer Predigttexte kamen aus dem Alten Testament, aber sie kamen auch aus dem Neuen. Und ich muß sagen, auf dieser Grundlage war es sehr leicht, zu erklären, was dies alles für unsere heutige Gesellschaft bedeutet. Dieser Weg aus der Sklaverei in die Freiheit — das war ein gutes Bild, ein Symbol.
Und worüber predigten Sie noch? Ein anderes Thema hängt eng damit zusammen, nämlich „Selbstbewußtsein". Wie soll ich das erklären? Du bist ein Individuum. Niemand ist so wie du. Gott liebt dich. „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst." Du mußt zuerst dich selbst lieben, damit du deinen Nächsten lieben kannst. Das haben wir gepredigt. Und zwar nicht nur in Dessau; das Interessante war: Wir hatten keinen Kontakt miteinander, und doch taten in Wittenberg und in Leipzig alle das gleiche.
Es war eigenartig: Nie in meinem Leben war ich während einer Predigt unterbrochen worden. Aber bei dem ersten Erneuerungsgottesdienst in unserer Kirche — im Oktober 1989 — klatschten die Leute und riefen: „Jawohl!" und „Bravo, bravo!" Ich sagte zu ihnen: „Bitte unterbrechen Sie nicht. Unser Gottesdienst darf nur eine Stunde dauern." Sie wußten gar nicht, wie man sich in einer Kirche verhält, aber sie waren auf einmal in der Kirche und fühlten, hier gab es einen Weg aus der Sklaverei und eine Perspektive für die Zukunft.
Schon vor dieser Zeit hatten wir viele Jahre lang das Richtige gebetet und gepredigt. Aber die meisten Leute kamen nicht. Nun kamen sie. In der Bibel gibt es das griechische Wort kairos. Kairos ist nicht leicht zu übersetzen. Es bedeutet die richtige Zeit, die Zeit Gottes. September, Oktober, November 1989 — das ist der Kairos, die Zeit Gottes. Das empfinde ich als Christ so. Und das habe ich gepredigt. Die Polen — die waren die ersten — und dann die Ungarn. Und fünfundvierzigtausend Ostdeutsche flohen nach Westdeutschland.
Können Sie aus Ihrer Perspektive als Pastor schildern, was in Dessau 1989 geschehen ist? Wir hielten jeden Freitagabend Erneuerungsgottesdienste ab in vier Kirchen in der Innenstadt von Dessau. Nach den Gottesdiensten begannen die Demonstrationen auf den Straßen. Die Leute marschierten von der Johanniskirche durch die Straßen zum Markt.
Die Menge rief: „Wir sind das Volk!" Ähnliches gab es bei der Französischen Revolution, und auch die Verfassung der Vereinigten Staaten sagt: „Wir, das Volk der Vereinigten Staaten." Der gleiche Geist der Freiheit ist in diesen Worten enthalten: „Wir sind das Volk!"
Auf dem Markt waren bis zu siebzigtausend Menschen. Die Stadt hat hunderttausend Einwohner. In Dessau verlief die Revolution genauso wie in den anderen großen Städten — wie etwa in Leipzig.
Ich habe ein paar Fotos. Hier sehen Sie den Chef des Staatssicherheitsdienstes, der Stasi. Er wird von einem Ring junger Menschen schützend umgeben, die die weißen Armbinden der neuen nichtkommunistischen Parteien tragen, denn Tausende stehen hier — und sie sind aufgebracht.
Warum wollten die Leute vom Neuen Forum einen Mann beschützen, der all das getan hatte, was sie so aufgebracht hatte? Die Revolution in den osteuropäischen Staaten war weitgehend friedlich. Wir versuchten, Blutvergießen zu vermeiden, und hier in Dessau wurde kein Blut vergossen.
Hier auf den Bildern sieht man Demonstranten mit kleinen Kindern in Kinderwagen. Das müssen Sie verstehen. Die ersten Demonstrationen waren sehr gefährlich für die Menschen, denn die Stasi-Leute standen mit ihren Maschinengewehren dabei.
Wir haben diese Leute nachher gefragt: „Was dachten Sie, als Sie die Menschenmenge sahen? Warum haben Sie nicht geschossen?" Und sie haben geantwortet: „Wir sahen junge Frauen mit ihren kleinen Kindern auf dem Arm." Die Demonstranten kamen familienweise. Die Stasi-Leute dachten: „Vielleicht ist meine eigene Frau, sind meine Kinder hier unter den Leuten." Und sie haben nicht geschossen.
Wie kam es, daß die Kirchen zum Hauptschauplatz der Veränderungen wurden? Die ganze DDR stand unter dem Druck der Kommunisten. Und der einzige Freiraum — der einzige Ort, wo man sagen konnte, was man dachte — waren die Kirchen. Es ist eine traditionell protestantische Gegend, weil hier die Reformation ihren Ausgang nahm. Hier ist Eisleben, wo Luther geboren wurde und starb, und Wittenberg, wo er als Pfarrer und Professor für Theologie wirkte.
Ich würde sagen, daß die Revolution 1989 durch den Einfluß der Pastoren, der Kirchenarbeiter und der Predigten friedlich verlief.
War es unter der früheren Regierung schwierig, Mitglied einer Kirche zu sein? Was soll ich sagen? Diejenigen, die sich zum Christentum bekannten, kamen zu den Gottesdiensten. Aber der Großteil der Leute sagte sich: „Es ist gefährlich, Mitglied der Kirche zu sein", und so traten sie aus der Kirche aus.
Viele Kirchenmitglieder hatten Probleme in der Gesellschaft. Sie konnten keine leitenden Positionen in der Wirtschaft bekleiden. Chef-posten waren den Parteimitgliedern vorbehalten. Christen wurden unterdrückt. Aber nicht nur Christen — jeder Staatsbürger wurde unterdrückt.
Sie haben im letzten Herbst mit vielen Menschen politisch zusammengearbeitet. Ist irgendeiner davon auch später noch zu Ihnen gekommen? Hat jemand durch das Erlebnis, daß ein ganzer Staat sich ohne viel Blutvergießen veränderte, ein neues Verhältnis zur Religion gefunden? Was die Leute über die Kirche und über die Geistlichen denken, ist so positiv, daß es schon eine Gefahr für uns darstellt. Heute ist der Pastor hier in Ostdeutschland so etwas wie ein König, denn, so sagen die Leute, die Kirche hat ja so viel für die Wende getan. Aber was bedeutet das wirklich? Verstehen diese Leute wirklich, was Christentum ist?
Hier gibt es viele junge Leute, die in unsere Gruppen kommen und fragen: „Was ist Christentum?"
Pastoren werden von Lehrern eingeladen und gefragt: „Wir haben als Marxisten, als Leninisten, gelernt, daß der Glaube an Jesus Christus eine Privatangelegenheit ist und keinerlei Beziehung zur Politik hat. Er ist nur eine Sache des Herzens, nichts weiter. Warum waren Pastoren und Kirchenarbeiter während der Wende so aktiv?" Sie haben etwas Falsches gelernt, und nun muß ich ihnen erklären, daß der Glaube an Jesus Christus alle Bereiche des Lebens umfaßt.
Einige fragen: „Warum haben Sie das getan?" Und ich erkläre das, was ich getan habe, aus meinem Glauben an Gott heraus.
Sie erwähnten den Stasi-Chef, der vor einer Gruppe von Menschen sprach, denen das, was er in der Vergangenheit getan hatte, eindeutig mißfiel. Welche Rolle spielt bei Ihnen jetzt die Vergebung, und wie läuft das praktisch, wenn viele in der Bevölkerung glauben, daß sie schlecht behandelt worden sind? Ich würde sagen, die Vergebung ist das wichtigste Problem bei uns. Ich hoffe, daß die Christen verstehen, was Vergebung ist. Es gibt hier eine Menge Haß. Ja, ich weiß, bei uns gibt es gefährlichen Haß. Und ich weiß auch, daß wir in unseren Gottesdiensten kein wichtigeres Predigtthema haben als die Vergebung. Aber wenn Sie Vergebung sagen, dann müssen Sie über Jesus Christus sprechen, über sein Leben und über sein Werk, das er für uns getan hat.
Ich kann den Haß eines anderen Menschen begreifen, denn auch in meinem Leben, in meinem Herzen war viel Haß. Und ich kann darüber sprechen, wie ich diesen Haß durch den Glauben an Jesus Christus überwinde. Wir müssen eine Atmosphäre der Vergebung aufbauen.
Da ist zum Beispiel der Text über Zachäus. Er saß auf einem Baum, als Jesus kam. Jesus sagte zu ihm: „Zachäus, steig eilend hernieder; denn ich muß heute in deinem Hause einkehren." Zachäus war der Steuereinnehmer der Römer, der Feinde. Er arbeitete mit dem Feind zusammen. Er war so etwas wie ein SED- oder Stasi-Mitglied. „Komm herunter, ich will bei dir bleiben und mit dir essen." So handelte Jesus, und wir alle müssen dasselbe tun. Laden wir sie doch ein. Das heißt nicht, daß wir die Fehler und Sünden dieser Menschen gutheißen. Aber wir können, wie es Jesus tat, ihnen helfen, ihre Vergangenheit zu überwinden, ein neues Leben zu leben.
