Ein Freund Von mir wohnt an einem Fluß, der jeden Winter zufriert. Das Eis wird so dick, daß man mit einem Lastwagen darüberfahren könnte. Wenn dann die Frühlingssonne die Erde langsam erwärmt, bekommt auch das Eis ihre Kraft zu spüren. Äußerlich scheint sich nichts zu verändern. Schaut man aber genauer hin, dann sieht man, daß die Eisdecke von feinen Rissen durchzogen ist.
Als dieser Freund einmal an einem Vorfrühlingstag am Flußufer stand, hörte er plötzlich lautes Knallen wie von Explosionen. Der Eisgang setzte ein. Innerhalb von Minuten geriet der ganze breite Fluß in Bewegung. Die Eisdecke, die fast einen halben Meter dick war, bäumte sich mit unvorstellbarer Gewalt empor und zerbrach. Riesige Eisschollen begannen sich flußabwärts zu schieben, krachten gegeneinander und bohrten sich an manchen Stellen tief in die Uferböschung. Mein Freund mußte höher hinaufklettern, um sich in Sicherheit zu bringen. Erstaunlicherweise war der Fluß nach eineinhalb Stunden fast frei. Das undurchdringliche Eis war verschwunden; nur ein paar große Brocken lagen hier und da am Ufer. Und obgleich der Fluß Hochwasser führte, floß er ruhig dahin.
Nicht immer geht das Tauen im Frühling so schnell und so dramatisch vor sich wie hier, aber es kommt. Allmählich taut das Eis und verschwindet.
Kalter Materialismus ist so ähnlich wie das Flußeis. Die in der Welt vorherrschende Mentalität scheint manchmal hart und unnachgiebig wie Eis. Es ist, als schimmere das reine Christentum wie blasser Sonnenschein über das gletscherartige sterbliche Denken. Wir fragen uns, ob es Jahrhunderte dauern wird, bis sich die mentale Atmosphäre genug erwärmt hat, damit eine wirklich bedeutsame geistige Bewegung einsetzen kann. Aber wenn wir Zeichen und Entwicklungen nicht geistig deuten, könnten wir klare Hinweise auf Tauwetter übersehen.
Mary Baker Eddy mußte über die kalte Fassade dessen hinausschauen, was fast undurchdringlich dichtes, materialistisches Denken zu sein schien, das ihrer Entdeckung, der Christlichen Wissenschaft, Widerstand entgegensetzte. Trotz der Verachtung, die man ihr entgegenbrachte, wußte sie, daß der Christus, die Wahrheit, die Jesus verkörperte, sich auch in ihrem Werk Wissenschaft und Gesundheit mit Schlüssel zur Heiligen Schrift ausdrückte und daß sie dieses Buch auf Gottes Geheiß geschrieben hatte.
Sie wußte, diese Christuskraft würde schließlich — nach und nach — den Widerstand gegen die Christliche Wissenschaft dahinschmelzen. Diese Wissenschaft erklärt, daß nichts die Wahrheit verdecken kann, daß nichts das Licht der Wahrheit daran hindern kann, zu leuchten und unser völlig geistiges Wesen zu offenbaren. Es hat nie wirklich im Wesen des von Gott erschaffenen Menschen gelegen, die Geistigkeit zu bekämpfen oder abzulehnen. Aber ohne das Licht des wissenschaftlichen Christentums, das die Heilige Schrift erleuchtet, kann man den geistigen Ursprung des Menschen nicht leicht erkennen.
„Nimm der Bibel die geistige Bedeutung", schreibt Mrs. Eddy in Wissenschaft und Gesundheit, „und diese Sammlung von Schriften vermag für die Sterblichen ebensowenig zu tun, wie Mondstrahlen einen vereisten Fluß zu schmelzen vermögen."
Das strahlende Licht der Christlichen Wissenschaft stößt immer noch auf sturen Widerstand. Aber dieser mentale Widerstand ist nicht die massive, gigantische Macht, die er zu sein scheint. Wäre er es, dann hätten Tausende von Heilungen durch die Christliche Wissenschaft über Generationen hinweg nicht stattgefunden.
Die kompromißlose Wahrheit, die in Wissenschaft und Gesundheit dargelegt wird, hat jedoch oft unbequeme mentale Zusammenstöße hervorgerufen, bis die harten, materiellen Elemente im menschlichen Bewußtsein bereit waren, geistigen Elementen zu weichen. Wenn das geschieht, beginnt mehr geistig begründetes Denken zu fließen.
Mrs. Eddy erklärt, daß die Wissenschaft des Christus Fortschritt und Wandel im menschlichen Denken vorantreiben muß. Sie schreibt: „Schon heute wird diese materielle Welt zum kampfplatz widerstreitender Gewalten. Auf der einen Seite wird Disharmonie und Schrecken sein, auf der anderen Wissenschaft und Friede. Der Zusammenbruch der materiellen Annahmen mag Hungersnot und Pestilenz, Not und Elend, Sünde, Krankheit und Tod zu sein scheinen, die neue Phasen annehmen, bis ihre Nichtsheit zutage tritt. Diese Unruhen werden bis zum Ende des Irrtums fortbestehen, bis alle Disharmonie in geistiger Wahrheit verschlungen sein wird."
Wissenschaft und Gesundheit macht es ganz klar, daß Gottes Reich der Harmonie in der absoluten geistigen Wahrheit jetzt und immerdar herrscht. Gott ist Alles-in-allem, und es gibt keine widerstreitenden Gewalten, die sich Ihm widersetzen. Es gibt keine Unruhe, ja nichts, woraus Leid erwachsen könnte, denn Gott ist göttliche Liebe, allmächtig und immer gegenwärtig. Seine Schöpfung, einschließlich des Menschen, steht voll und ganz unter Seiner Herrschaft. Die eben zitierte Stelle aus Wissenschaft und Gesundheit zeigt uns unter anderem, wie die Dinge dem unsicheren menschlichen Bewußtsein zeitweilig erscheinen mögen, bis es die wirkliche Autorität der Regierung Gottes begreift und sich ihr unterwirft.
Das individuelle und das kollektive menschliche Denken mögen bewegte Zeiten durchmachen, die so „chaotisch" aussehen wie der Fluß beim Eisgang. Das Sonnenlicht der Wahrheit scheint auf das materialistische Denken, erwärmt es und löst seine alten Überzeugungen auf. Es ist jedoch tröstlich, zu wissen, daß grundsätzlich weder Gewalt noch Schaden notwendig sind, wenn diese Veränderungen vor sich gehen. Mrs. Eddy weist darauf hin: „Auf der einen Seite wird Disharmonie und Schrecken sein, auf der anderen Wissenschaft und Friede."
Die „Seiten" stellen nicht getrennte Menschengruppen dar, sondern zwei völlig gegensätzliche Grundlagen für Denken und Leben — Geistigkeit auf der einen und Materialität auf der anderen Seite. Christus Jesus lehrte seine Nachfolger, daß sie bewußt die Seite der Geistigkeit wählen müssen.
Er wurde mit Recht der Friedefürst genannt, und er bezeichnete sich als „das Licht der Welt" (Johannes). Aber das kräftige, heilende Licht der Wahrheit, das er in das Denken seiner Zeit brachte, rüttelte die Menschen auf und brachte Ereignisse in Gang, die von Beobachtern wohl kaum als besonders „harmonisch" angesehen wurden! Einige warfen Jesus deshalb vor, er stifte Unruhe. Vom Standpunkt des bestürzten Materialisten aus wäre vielleicht alles sehr viel „friedlicher" gewesen, wenn Jesus seine radikalen geistigen Ideen einfach für sich behalten und alles beim alten gelassen hätte.
Wenn Sie oder ich den plötzlichen Eisgang an einem gefrorenen Fluß beobachteten, würden wir vielleicht einen Augenblick lang voll Schrecken denken, es sei alles viel „friedlicher" und „harmonischer" gewesen, ehe die Sonne alles erwärmte und solch ein Durcheinander anrichtete! Tatsächlich bringt aber das Sonnenlicht der Wahrheit niemals Unordnung oder Mißklang. Ganz im Gegenteil! Wahrheit löst Disharmonie und irrige Annahmen auf und fördert Erneuerung und Heilung. Der Irrtum allerdings bleibt dabei nicht ungestört, denn der Irrtum hat nie einen Platz in der Wahrheit.
Von der friedlichen Seite oder vom Standpunkt der geistig Empfänglichen aus war die Lebensweise, die Christus Jesus zeigte, ein Grund zur Freude. Sie brachte Zufriedenheit und Wohlergehen. Die ersten Nachfolger Christi begegneten ärgerlichen, auf materieller Gesinnung beruhenden Reaktionen: Das Christentum wurde als kriminell erklärt und unter Strafe gestellt. Aber dennoch demonstrierten sie gottverliehene Gnade und schritten furchtlos voran; sie gründeten Kirchen und widmeten sich der Mission des Heilens. Der stille, stetige Storm ihres selbstlosen Lebens trug wesentlich dazu bei, den Lauf der Geschichte zum Geist hin zu lenken.
Während der Zusammenbruch des Materialismus in unserer Zeit seinen Fortgang nimmt, müssen die Christlichen Wissenschafter die offenbarte Wahrheit noch klarer erfassen, die Wissenschaft und Gesundheit der ganzen Welt bringt. Wir, die wir die Christliche Wissenschaft lieben, müssen uns fragen, inwieweit wir willens sind, den Kampf mit dem Materialismus aufzunehmen und Jesu Gebot zu folgen, nämlich Krankheit und Sünde zu heilen — auch wenn das bedeutet, daß uns dabei nicht immer die Annehmlichkeiten und der Beifall der Welt zuteil werden.
Die Wissenschaft des Christus, die das Denken der Welt entmaterialisiert und vergeistigt, muß in uns jeden Widerstand schmelzen und auflösen, der uns daran hindert, unseren Teil zu tun, um die Menschheit von den alten, kalten Theorien zu befreien, die den Menschen von Gott trennen möchten.
