Der Artikel Im Time-Magazin, einer amerikanischen Wochenzeitschrift, war nicht zu übersehen. Vier halbwüchsige Jungen waren verurteilt worden, weil sie in einer Vorstadt irgendwo in New Jersey, USA, antisemitische Parolen an die Wände einer Synagoge und an Hauswände bei jüdischen Familien gesprüht hatten. Der zuständige Rabbiner bat den Richter, mit den Jungen arbeiten zu dürfen — er wollte sich im Verlauf mehrerer Monate immer wieder mit ihnen unterhalten —, denn er hoffte, dies würde eher dazu beitragen, Vorurteile zu überwinden, als eine konventionelle Strafe. Das Gericht stimmte zu.
Was uns an diesem Artikel am meisten beeindruckte, war die Geduld, mit der der Rabbiner versuchte, etwas zu verändern. Wir beschlossen, uns mit ihm in Verbindung zu setzen und mehr darüber zu erfahren, wie er Vorurteile zu überwinden sucht.
Dabei folgten wir einer vierundneunzig Jahre alten Tradition der christlich-wissenschaftlichen Zeitschriften, gelegentlich Kommentare Geistlicher zu wichtigen Tagesthemen zu veröffentlichen. Wir interviewten Eugene Markovitz, einen gebürtigen Rumänen, der jetzt in Clifton, New Jersey, lebt.
Die Gründerin dieser Zeitschrift war nur zu gut mit Vorurteilen hinsichtlich Bildung, Geschlecht und Religion vertraut. Mary Baker Eddy, die Entdeckerin und Begründerin der Christlichen Wissenschaft, war der Ansicht, daß Vorurteile einer materialistischen Anschauung vom Menschen entspringen, der Vorstellung nämlich, daß der Mensch von Gott und seinem Nächsten getrennt sei.
Sie schreibt von einer Zeit, in der sie Drohbriefe erhielt (Botschaft an Die Mutterkirche für 1902): „Ich verließ mich auf Gott und war geschützt.“ Diese kurze Bemerkung über ihre Reaktion auf religiöse Vorurteile läßt erkennen, was in ihren anderen Schriften ausführlich behandelt wird: eine Überzeugung, daß Vorurteile nicht einfach dadurch geheilt werden, daß man sich blind auf eine weit entfernte Gottheit verläßt, sondern dadurch, daß man geistig verstehen lernt, daß Gott, Geist, der Vater aller ist.
Dieses Verständnis — daß wir alle in unserem wahren, von Gott geschaffenen Selbst durch die göttliche Liebe miteinander verbunden sind — ist weit mehr als ein idealistisches menschliches Verlangen, mit allen Leuten gut auszukommen. Es hat seine Grundlage in unwandelharen geistigen Tatsachen, die, wenn sie gelebt werden, die menschliche Erfahrung mehr in Einklang mit der göttlichen Realität bringen, der Allheit der göttlichen Liebe.
In einer Würdigung der jüdischen Philanthropen Baron und Baronin de Hirsch schreibt Mrs. Eddy: „Durch die Liebe zum Menschen erlangen wir das einzige und wahre Gefühl der Liebe zu Gott, dem tatsächlichen Guten, und so erheben wir uns mehr und mehr zu Seinem Bild und Gleichnis und werden befähigt, an jenem Gemüt teilzuhaben, dem das Universum entspringt.“ (Zitiert in Die Erste Kirche Christi, Wissenschafter, und Verschiedenes.)
Wir sind Rabbiner Markovitz sehr dankbar, daß er uns dieses Interview gewährt hat, und dankbar für seine überaus hilfreiche Perspektive zu einem Thema, das Herold-Leser zutiefst interessiert.
Rabbiner Markovitz, einige unserer Mitarbeiter, die den Artikel im Time-Magazin gelesen haben, waren besonders beeindruckt davon, wie Sie mit den Jungen, die die Wände beschmiert hatten, gearbeitet haben. Wir würden gern mehr hören über Ihren Umgang mit den Jungen und darüber, wie Sie Zugang zu ihnen fanden. Zunächst einmal darf man nicht vergessen, daß es eigentlich so eine Art Pionierarbeit für mich war, als ich den Auftrag des Gerichts annahm. Ich weiß von keinem Lehrbuch, in dem steht, wie man mit Jugendlichen umgeht, die so etwas tun. Also mußte ich mich auf mich selbst verlassen und auf das, was die Gemeinde beitragen konnte; ich mußte aus meinen eigenen religiösen und ethischen Überzeugungen und Ideen heraus handeln.
Bevor ich mich mit den Jungen traf, besuchte ich ihre Eltern. Und ich fragte sie: „Was, glauben Sie, steckt dahinter? Wie erklären Sie sich dieses Verhalten?“ Es sind schließlich alles sehr nette Familien. Einer der Väter ist ein prominenter Zahnart; ein anderer Bankbeamter; ein weiterer Lehrer, und der vierte ist Polizist. Warum würden ihre Kinder so etwas tun?
Sie hatten verschiedene Erklärungen dafür. Vor allem hieß es: „Unsere Kinder sehen Hakenkreuze im Fernsehen, in alten Filmen.“ Oder auch: „Vielleicht haben sie Freunde. Meine Kinder würden nie so etwas tun — aber wenn die anderen sie dazu anstacheln ... “ Und: „Die Jungen haben nicht gewußt, was sie tun. Sie haben es lediglich aus Jux gemacht.“ Immer wieder hörte ich dieselben alten Erklärungen.
Dann fragte ich sie: „Könnte es vielleicht sein, daß Sie eine Komponente aus dem Spiel gelassen haben — nämlich die Familie?“ Ich sagte, daß möglicherweise wir Eltern (und ich schloß mich da gar nicht aus) manchmal unbewußt unsere eigenen Vorurteile zum Ausdruck bringen, unbewußt zeigen, was wir mögen oder nicht mögen Und Kinder machen gewöhnlich nach, was sie bei uns sehen. Nun, das öffnete sozusagen eine Tür — und ich lernte die Eltern wirklich kennen. Zum Beispiel erfuhr ich, daß der Bankbeamte bis zu seinem zwölften Lebensjahr in Holland gelebt hatte. Sein Großvater in Holland hatte während des Zweiten Weltkriegs verschiedene jüdische Familien vor den Nazigefängnissen bewahrt. Aber der Bankbeamte hatte seinem Sohn nie davon erzählt.
Wir bekamen ein recht gutes Verhältnis zueinander, und die Eltern sagten mir jede Unterstützung zu.
Die Kinder hatten zweierlei getan: Sie hatten erstens Hakenkreuze gemalt, obwohl sie wenig Ahnung davon hatten, wofür das Hakenkreuz steht. Zweitens hatten sie gesagt, sie haßten die Juden, und sie hatten dies auch auf verschiedene Weise schriftlich ausgedrückt. Ich konzentrierte mich auf diese beiden Dinge.
Ich zeigte ihnen den französischen 30-Minuten-Film „Nacht und Nebel“, der von den amerikanischen, britischen und französischen Streitkräften gedreht worden war, als sie am Ende des Zweiten Weltkriegs in die Konzentrationslager kamen. Der Film erschütterte sie sehr. Er zeigt, daß Hakenkreuze das Symbol einer entsetzlichen Vernichtung sind.
Dann unterrichtete ich sie über den Judaismus. Zum Beispiel nahm ich die vier Jungen mit in unsere Synagoge, in unser Heiligtum. Inzwischen war ich schon ganz gut Freund mit ihnen; ja, wir hatten eine sehr nette, ungezwungene Beziehung zueinander. Und übrigens, nach dem ersten oder zweiten Treffen erwähnte ich gar nicht mehr, was sie getan hatten.
Wie lange haben Sie mit ihnen gearbeitet? Ungefähr sechs oder sieben Monate.
Ich nahm sie also mit in unsere Synagoge und sagte zu ihnen: „Vor einem Jahr habt ihr hier an die Tür der Synagoge geschmiert, daß ihr die Juden und den Judaismus haßt. Jetzt wollen wir uns mal anschauen, was ihr so haßt.“ Und dann erklärte ich ihnen einfach, was jeder Gegenstand in der Synagoge bedeutet — die Lade, die Thora, die bunten Fenster usw.
Zum Schluß sagte ich zu ihnen: „Und jetzt wollen wir noch ein oder zwei Gebete miteinander sprechen. Schlagt das Gebetbuch auf, das da vor euch liegt. Es ist in Englisch und Hebräisch geschrieben.“ Ich wählte zwei Gebete aus, und als sie die worte sprachen, kam Leben in ihre Augen. Denn siehe da, welche Überraschung! Es waren die gleichen Gebete, die sie in ihrer Kirche hatten, die gleichen Psalmen!
Können Sie sich entsinnen, welche es waren? Ja, der 150. Psalm und der 23. Psalm, eben die wohlbekannten Psalmen in unseren alten Gebetbüchern. Zwei Drittel der Gebete in den jüdischen Gebetbüchern stammen direkt aus der Bibel. Und sie lasen: „Ich will dich erheben, mein Gott, du König, und deinen Namen loben immer und ewiglich.“ Dieser Psalm spricht von Gottes Größe und davon, daß Er uns Speise gibt.
Ich bezog auch andere Geistliche in die Arbeit mit ein. So sahen die Jungen, wie ein Rabbiner, ein Priester und ein Pfarrer zusammenarbeiteten, gemeinsam Dinge taten, und daß es Gemeinsamkeiten zwischen ihnen gab. Natürlich ist jeder ein wenig anders, und die Unterschiede sind wichtig. Aber wir glauben zum Teil dasselbe.
Dann schloß ich die Arbeit mit einer Zusammenkunft mit den Eltern ab. Ich sagte zu ihnen: „Jetzt sind wir möglicherweise ein wenig weiser.“ Sie alle dankten mir für das, was ich getan hatte.
Sie haben erwähnt, daß die Jungen, als Sie sie mit in die Synagoge nahmen und ihnen die Thora und das Gebetbuch zeigten, das gemeinsame Bindeglied zur Bibel sahen. Finden Sie in der Heiligen Schrift praktische Hilfen, um Vorurteile zu überwinden? Oder muß man sich dazu nur einfach auf menschlicher Basis kennenlernen? Nein, nein, nein. Die Burschen kennenlernen und mit ihnen arbeiten ist nur der praktische Aspekt, die Verwirklichung von Ideen.
Welche grundlegenden Ideen haben Sie verwirklicht? Die Bibel ist ausschlaggebend. Aber unsere Religion ist nicht völlig bibelorientiert. Die Thora enthält das, was Sie das Alte Testament nennen. Außerdem haben wir den Talmud, der während eines Zeitraums von über tausend Jahren entstand, und ferner Auslegungen und Erläuterungen aus allen Jahrhunderten.
Die Bibel ist überaus wichtig. Sie zeigt, daß uns als Eltern die Aufgabe zufällt, auf die Tafeln der Herzen unserer Kinder zu schreiben, solange sie jung sind, bevor sie mit anderem Zeug vollgestopft werden. Das sagt die Bibel über die Verantwortung der Eltern. Davon spricht König Salomo, und wir haben die bekannte Ermahnung: „Du sollst sie [die Gesetze und Gebote] deinen Kindern einschärfen.“
Und Vergebung und Reue spielen im Judaismus eine große Rolle. Wir haben einen Tag im Jahr, der allein dem gewidmet ist: Das ist Jom Kippur.
Was macht Ihres Erachtens solche Reue und solche Vergebung möglich? Jeder von uns, nicht nur Kinder, sondern wir alle können unserem Leben eine andere Richtung geben. Zuerst muß man erkennen lassen, daß man weiß, was man getan hat, und daß es verkehrt war. Vergebung ist ein sehr wichtiger Faktor. Wir müssen den Menschen, dem wir Unrecht getan haben, um Vergebung bitten und das Unrecht wiedergutmachen. Dies alles ist in der Bibel begründet. Die Bibel spricht im fünften Buch Mose über Reue, und es gibt zahlreiche ähnliche Aussprüche. Es ist ein ständiger Prozeß. Wir müssen die Gesellschaft verbessern.
Beruht unsere Fähigkeit zur Vergebung irgendwie darauf, wie Gott uns geschaffen hat? Ja, bestimmt. Das ist der Kernpunkt. Wir haben grundlegend eines gemeinsam: die biblische Aussage, daß Gott uns geschaffen hat, daß Gott uns zu Seinem Ebenbild geschaffen hat.
Ich habe auf den Time-Artikel hin eine Menge Post bekommen. Darauf war ich gar nicht vorbereitet! Ich bin lediglich ein Rabbiner, der in seiner Gemeinde seine Arbeit tut. Für mich war das, was ich tat, nichts Außergewöhnliches. Aber Millionen von Menschen, die diesen Bericht gelesen haben, waren anderer Ansicht. Seither ist mein Leben nicht mehr, was es einmal war! Alle möglichen Leute schreiben mir. Und alle sagen, was die ganze Sache so einzigartig mache, sei, daß ich im Geist der Vergebung und Liebe an sie heranging und so dem Haß von einer ganz anderen Seite aus entgegentrat — wo die allgemeine Vernunft raten würde: „Schnappt die Gauner und prügelt sie windelweich!“
Im Grunde geht es doch darum, daß die Probleme unserer Gesellschaft so massiv sind, daß wir alle bei der Überwindung des Hasses mithelfen müssen.
Glauben Sie, daß rassische, religiöse und ethnische Vorurteile die gleiche Grundlage haben? Natürlich! Sie haben die gleiche Ursache: Unwissenheit. Schiere Unwissenheit. Wenn zum Beispiel diese vier Jungen vor dieser ganzen Geschichte an meiner Synagoge vorbeigingen, war sie für sie etwas Geheimnisvolles. Wissen aber machte dem Geheimnis ein Ende.
Aber würden Sie Unwissenheit mit Haß gleichsetzen? Unwissenheit ist nur ein Faktor, der bei Voreingenommenheit mitspielt. Der zweite Faktor ist der Argwohn der Leute gegen alles, was ihnen fremd ist.
Wir werden nicht mit Vorurteilen geboren; wir „holen“ sie uns — wie eine Krankheit. Wenn man bestimmte Klischees immer wieder hört, dann schleichen sie sich leicht in unser Denken ein; und das geschieht auch in sogenannten zivilisierten und aufgeklärten Kulturkreisen.
Aus diesem Grund — und hier sind wir bei dem angelangt, was Sie und mich interessiert — brauchen wir auch einen festen Glauben. Das heißt, wir müssen glauben — wir müssen fest davon überzeugt sein —, daß wir tatsächlich Gottes Kinder sind, daß es da eine gemeinsame Ader gibt. Gemeinsamkeit ist ein machtvolles Mittel gegen Haß. Hier hat die Religion, wenn sie recht gelehrt wird, eine erlösende Macht.
Basiert darauf nicht im Grunde die Liebe? Ganz gewiß. Ja, die Liebe, die der gemeinsamen Quelle in Gott entspringt.
